[Buch] Gene Wilder: My French Whore – A Love Story (2007)

Buch / Uncategorized / 21. Februar 2013

In den frühen Jahren seiner Karriere begann Schauspieler Gene Wilder während eines Aufenthalts in Paris, ein Drehbuch zu schreiben – das, wie er dann feststellen mußte, nicht wahnsinnig gut ausfiel. Nachdem er 2005 seine Autobiographie KISS ME LIKE A STRANGER herausgebracht hatte, wollte er mit dem Schreiben nicht aufhören – und zog das alte Skript wieder hervor, das zwar über die Jahre nicht besser geworden war, aber immer noch im Kern eine gute Geschichte enthielt. So fing er an, diese Story in Prosaform zu überarbeiten. Das Ergebnis ist MY FRENCH WHORE, sein erster Roman, der den schlichten Untertitel „A Love Story“ trägt.

Das Buch spielt im Jahr 1918, als der erste Weltkrieg gerade in den letzten Zügen liegt. Der zurückhaltende Zugschaffner Paul Peachy aus Milwaukee verläßt in Kummer über eine gescheiterte Ehe die Staaten und zieht als Soldat in den Krieg – um wenig später in den Fängen der Deutschen zu landen, die ihn aber für den Meisterspion Harry Stoller halten. Peachy – der aufgrund seines Elternhauses gutes Deutsch spricht – spielt die Rolle aus Angst um sein Leben mit und darf sich zahlreicher Annehmlichkeiten und der enormen Anerkennung der deutschen Offiziere erfreuen. Und während er noch bangt, wann seine Scharade auffliegen wird, verliebt er sich in ein französisches Mädchen namens Annie, das ihm vom deutschen Offizier Steinig quasi „zugeteilt“ wird …

Ganz hinten im Buch dankt Wilder zwei Mentoren: Ernest Hemingway und
Jean Renoir, „for whatever simplicity of language I have achieved“.
Tatsächlich merkt man, wie die beiden für MY FRENCH WHORE Pate standen:
Hemingway mit FOR WHOM THE BELL TOLLS (dt. WEM DIE STUNDE SCHLÄGT), in
dem ebenfalls eine Romanze vor Kriegshintergrund gezeichnet wird, und
Renoir mit seinem Film DIE GROSSE ILLUSION – die eigentümliche
Freundschaft zwischen dem von Erich von Stroheim gespielten Kommandanten
Rauffenstein und dem Gefangenen Boeldieu findet in der Beziehung
zwischen Colonel Steinig und Peachy ein merkliches Echo.

   „Would you like to come to my apartment, Harry?“ she asked.
   „I’m … a little tired … and a little drunk, Annie. But thank you.“
   She stared at me, trying to decide, I think, whether I was telling the truth or just putting her off.
   „Well then – would you like to kiss me good night?“ she asked.
   After a pause I said, „No.“
   „Why?“
   „Because you have so much make-up on, I might miss your lips.“
  
She looked at me for a few seconds and then slapped me so hard across
the face that I felt my drunken head start to twirl. She got into her
auto and drove off.

MY FRENCH WHORE ist eine leichte, bittersüße Novelle von nur 174 Seiten – und von Beginn an macht es Sinn, daß Wilder die Geschichte ursprünglich mal für sich selber geschrieben hat: Man könnte sich bei einer Filmversion kaum eine bessere Besetzung für den sanften und idealistischen „brave coward“ Paul Peachy vorstellen als den jungen Gene Wilder. Das hat beim Lesen den angenehmen Effekt, daß man tatsächlich Wilders Stimme hört, wenn Peachy agiert, und daß MY FRENCH WHORE somit fast wie die Blaupause eines nie gedrehten Wilder-Films wirkt.

Diese Tatsache soll aber keinesfalls die literarischen Qualitäten des Buchs mindern: Wilder entpuppt sich hier als geschickter Erzähler, der mit schnörkelloser Sprache die Geschichte stets leichtfüßig vorantreibt – und den Leser aber ganz schnell an den Punkt bringt, wo einem die Figuren ans Herz wachsen und ihre Schicksale wichtig werden. Noch ehe man es sich versehen hat, ist die Novelle ausgelesen – und dann stellt man fest, wie stark man emotional hineingezogen wurde. So lobt auch Wilders früherer Kreativpartner Mel Brooks das Buch auf der Rückseite des Covers: „It’s an elegantly woven story of intrigue, danger, sex and comedy – but for me the big surprise is that it’s a truly moving and eloquent love story.“

Daß Gene Wilder Talent zum Autor hat, ist dank seiner diversen Drehbücher und seiner wunderbaren Autobiographie keine Überraschung. Daß er aber so effektiv Humor und Drama, Romantik und Abenteuer, Spannung und Wehmut verweben kann, ist dennoch eine echte Entdeckung. Es ist schade, daß Wilder mittlerweile nicht mehr als Schauspieler auftritt – aber wenn er uns noch lange als Autor mit so feinen Werken wie MY FRENCH WHORE erhalten bleibt, dann mildert das die Enttäuschung über seinen Ruhestand gewaltig. Roman Nummer 2, THE WOMAN WHO WOULDN’T aus dem Jahr 2008, ist jedenfalls schon bestellt.

Mehr über Gene Wilders Filme und Bücher auf Wilsons Dachboden:
CHARLIE UND DIE SCHOKOLADENFABRIK (1971)
ZWEI WAHNSINNIG STARKE TYPEN (1980)
ZWEI WAHNSINNIG STARKE TYPEN – Soundtrack
DER GEISTERFLIEGER HANKY PANKY (1982)
DIE GLÜCKSJÄGER (1989)
DAS ANDERE ICH (1991)
KISS ME LIKE A STRANGER – MY SEARCH FOR LOVE AND ART (2005)



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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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