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Korn: MTV Unplugged (2007)

Eine steckerlose Neubetrachtung der quintessentiellen NuMetal-Band: Was holen Korn unplugged aus ihren Songs heraus?

Wenn man älter wird, wird man ja – gemäß der Volksweisheit – auch ein wenig leiser, ruhiger, tritt langsamer und verliert den ziellosen Zorn der jungen Jahre. Auch der NuMetal ist älter geworden, beziehungsweise sind es seine Protagonisten geworden, und weil die Aufmerksamkeit der Teenager längst bei anderen Bands liegt, ist das Terrain abgesteckt und kann entspannter beschritten werden. Immer mehr der einstigen Rabauken betrachten ihre alten Songs mittlerweile mit neuem Blick und versuchen, mit heruntergefahrenen Arrangements und ohne Verzerrer aus dem Backkatalog neue Facetten zu zeigen: Nach Unplugged-Exkursionen von Staind (bei denen bot sich der Schritt immer am einfachsten an), Godsmack, Professional Murder Music, Sevendust und sogar den Krawallpunks von Primer 55 wollen nun auch Korn, Urväter und Schrittmacher der Musikrichtung, ihre Songs im akustischen Gewand neu präsentieren. Und das machen sie gleich im großen Rahmen, in der Großinstitution der stromlosen Präsentation: MTV UNPLUGGED.

Natürlich hofft jeder Musiker, daß nach dem UNPLUGGED-Auftritt wie einst bei Nirvana endlich wahrgenommen wird, welch respektables Liedgut unter all dem Krach stecken kann. Auch Korn möchten ihre Songs hervorkehren, aber sie nutzen die Gelegenheit primär, um lustvoll die Arrangements von innen nach außen zu stülpen, mit ungewöhnlichen Texturen zu spielen, bislang verborgene Seiten der Stücke zu zeigen. Die rohe Wut von „Blind“ wird zum heiteren Flamenco, die unbändige Energie von „Freak on a Leash“ wird in eine melancholische Pianoballade kanalisiert. In die Akustik-Instrumentierung werden interessante Klänge eingebunden: Eine Säge, japanische Taiko-Trommeln, Streicher, orientalische Anleihen.

Nicht bei jedem Song geht das Konzept völlig auf: „Got the Life“ hat als Song zu wenig Substanz, um den Stromverlust schadlos zu überstehen, „Twisted Transistor“ offenbart nichts, was nicht in der Urversion schon gehört wurde. Korn covern „Creep“ von Radiohead und laden The Cure samt Robert Smith zum Gastauftritt ein, wo dann „Make Me Bad“ mit „In Between Days“ gekreuzt wird. Evanescence-Frontfrau Amy Lee singt auf „Freak on a Leash“, und ihre dramatische Stimme verleiht dem Song vielleicht mehr Ernsthaftigkeit, als es zu diesem eher spielerischen Unterfangen paßt.

Aber das sind nebensächliche Bedenken: Korn schaffen es in der Tat, ihren Songkatalog in neuem Gewand zu präsentieren, und sie gehen leicht und mit Neugier damit um. Diese Unplugged-Session ist keine einfache Reduktion, sondern in weiten Teilen ein alternativer Ansatz, an die Stücke heranzugehen, und im Experimentieren mit Stimmungen und Klangtexturen fördert die Gruppe Spannendes und Erstaunliches zu Tage.

Der NuMetal mag Schnee von gestern sein, die grenzenlosen Verkaufszahlen von Korn selige Vergangenheit – aber die Unplugged-Aufnahme zeigt, daß die Band noch lange nicht fertig ist. Korn sind immer noch neugierig.


Dieser Text erschien zuerst am 19. März 2007 bei Fritz/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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