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Staind 1996 -> 2006: The Singles (2006)

Der Blick zurück: 10 Jahre Staind. Das Beste und Offensichtlichste aus 5 Alben.

Es ist Weihnachten. Zur Weihnachtszeit wird gerne geschenkt. Und weil niemand so richtig weiß, was man eigentlich herschenken soll, gibt es Best-of-Alben. Da werden ja alle beschenkt: Die Künstler, die ohne viel Zutun Präsenz bekommen. Die Großeltern, die dem Kind etwas Schmissiges angedeihen lassen wollen und, weil sie ja ein wenig orientierungslos sind, zu den Platten greifen, auf denen „Meine schönsten Erfolge“ steht. Die Kinder, die mit einem Schlag total viele bekannte Songs eines Künstlers besitzen. Die Hardcore-Fans, weil die immer mit kleinen Zusatzschmankerln wie unveröffentlichten Demo-Abmischungen oder bislang ungeschossenen Fotos bedacht werden, für die ihnen der Ladenpreis von knapp 20 Euronauten ein müdes Lächeln über die Sammlerlippen zaubert. Und – ganz wichtig und am segenreichsten beschenkt – die Plattenfirmen, die mit dem alten Krempel nochmal kassieren können, um ihren Mitarbeitern als Weihnachtsgratifikation doch mehr als eine Schneekugel kredenzen zu können. Schenken ist schön.

Wo waren wir? Ach ja, die Singles-Zusammenstellung von Staind, unmißverständlich mit dem Titel STAIND 1996 -> 2006: THE SINGLES versehen. 10 Jahre lang geht es Aaron Lewis jetzt schon schlecht, 5 Alben lang … nein, streichen wir das. Zuviel Zynismus. Aber erstaunlich ist es schon, wieviel Zeit mittlerweile vergangen ist für diese Band, und wie lange – 5 Jahre! – ihre ganz großen Singles dann doch schon wieder zurückliegen. Als sich die Band 1995 formierte und 1996 ein völlig verzweifeltes Tagebuch von Frontmann Lewis‘ Depressionen aufnahm, hat keiner mit weltweit über 15 Millionen Alben gerechnet.

Die ersten beiden Alben lang – das selbstaufgenommene TORMENTED und das Major-Debüt DYSFUNCTION – zeigte sich die Gruppe noch sehr vom dreckigen Grunge von Alice in Chains und der düsteren NuMetal-Nabelschau von Korn beeinflußt. In Lewis‘ abgründigen Pessimismus – das erste Album beginnt mit den Worten „I hate my fuckin‘ life“ und dem Klang einer Waffe, deren Abzug gespannt wird – steckte Wut und Verzweiflung, er schrie und jammerte und konnte sich kaum zu den gelegentlich auftauchenden Melodien aufraffen. „You can’t feel my anger / You can’t feel my pain / You can’t feel my torment / Driving me insane“, klagte Lewis in dem Song „Mudshovel“ und begann die Ballade „Home“ mit den Worten „I forced myself through another day“. Kein Wunder, daß die Mischung aus tiefergestimmten Gitarren, authentischem Weltschmerz und Hart-Weich-Kontrasten Gefallen bei Limp-Bizkit-Chefmütze Fred Durst fand, der nach anfänglichen Bedenken (dank des Covers der ersten CD hielt er Staind für Teufelsanbeter) die Gruppe unter Vertrag nahm und ihnen den Major-Plattenvertrag verschaffte. Terry Date, der schon die fragmentarisch artikulierte Angst der Deftones einfing, produzierte DYSFUNCTION; die Gruppe tourte mit Limp Bizkit, Korn und Primus.

Die Wut verschwand, die Depressionen blieben in gemäßigter Form. Mit einer live auf der Family-Values-Tournee aufgenommenen Ballade und dem perfekt produzierten Album BREAK THE CYCLE bewegten sich Staind vom NuMetal-Terrain in ein Alternativ-Metal-Gebiet, wo sie mit genug traurigen, melodieseligen Powerballaden dafür sorgten, daß mittlerweile kaum jemand mehr über ihre einstige Verbindung zur NuMetal-Szene nachdenkt. Ihr weltweit größter Hit „It’s Been Awhile“ änderte 2001 alles: Man konnte die Herkunft der Band noch erahnen, aber der Melancholie des Songs („Why must I feel this way / Just make this go away / Just one more peaceful day“) konnte niemand widerstehen. BREAK THE CYCLE wurde der Durchbruch der Gruppe, und nur wenig später gab Aaron Lewis zu Protokoll, daß es ihm besser ginge. Er brauche nicht mehr schreien.

Zwei Jahre später war die NuMetal-Szene um sie herum kollabiert: Korn blieben 2002 auf ihrem teuersten und ambitioniertesten Album UNTOUCHABLES sitzen, Limp Bizkit gruben 2003 die Bewegung mit ihrem größenwahnsinnigen Hohlkörper RESULTS MAY VARY endgültig ein. Staind hatten die meisten Spuren des NuMetal-Klangs aus ihrem Kosmos verbannt und nahmen das ruhigere, nachdenklichere 14 SHADES OF GREY auf – das mit seiner horrend zugekleisterten Überproduktion wie eine in Schaumstoff eingebettete Verwässerung von BREAK THE CYCLE wirkte. Aber sie fingen sich wieder: 2005 konzentrierten sie sich mit CHAPTER V auf ihre Stärken und versöhnten sich mit ihren kantigeren Ursprüngen.

Die Geschichte der Gruppe ist nicht in dieser Ausführlichkeit auf der Zusammenstellung zu hören. Die Frühphase wird schonungslos kurz abgehakt, mit einem Song von „Tormented“ und zweien von „Dysfunction“ – von denen der zweite schon eine zurückhaltende Ballade ist. THE SINGLES navigiert chronologisch durch die Entwicklung ihres Sounds: Es demonstriert schön, wie Staind ruhiger wurden, wo sie ihre hymnische Phase hatten, wo sie weiter reduzierten. Nicht alle Singles sind enthalten: „Just Go“, „Fade“ und „How About You“ fehlen. Das ist einigermaßen zu verschmerzen, weil die wirklich großen Hits alle zu hören sind. Und die fangen ein, warum die Band weltweit so viel Erfolg feiern konnte.

Hinter die 12 Singles sind 4 Bonustracks geschoben: Akustik-Aufnahmen eines Livekonzerts im Hiro Ballroom. Während diese sehr weit heruntergefahrenen Tracks – drei davon Coverversionen: „Comfortably Numb“ von Pink Floyd, „Nutshell“ von Alice in Chains und „Sober“ von Tool – viel der jüngeren Bühnenpräsenz der Gruppe einfangen und passend auf die kommende Solo-Akustik-Tournee von Aaron Lewis hinweisen, bleibt doch die Frage, ob man nicht eventuell eine vollständige Singles-Kollektion einerseits und separat das komplette Livekonzert mit seinen 16 Songs (!) andererseits hätte veröffentlichen können bzw. sollen. So bleibt nur wieder der fade Beigeschmack, den Bonustracks auf Compilations immer haben.

Aber seien wir mal nicht so. Es ist ja Weihnachten, und da wird man gerne sentimental. Ihr dürft die CD gerne jemandem schenken. Plattenfirma und Empfänger freuen sich.

Dieser Text erschien zuerst am 14.12.2006 bei Fritz!/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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