Wir sind Helden: Von hier an blind (2005)

Uncategorized / 7. April 2005

Heldenfriedhof

Die Helden sind gekommen, um zu bleiben, aber die Frage ist, ob der Konsument bleibt, um’s zu hören. Nach langer Wartezeit ist ja endlich das neue Album von Wir sind Helden in den Läden gelandet – VON HIER AN BLIND. Und vom Laden in meinen CD-Player ist’s ja bekanntlich nur ein kleiner Schritt.

Erster Eindruck: Es ist überraschend, wie schnell etwas verfliegen kann, was mal richtig gut war. Es ist alles noch an seinem Platz: Judiths niedliche Kleinmädchenstimme, die leicht unterkühlte musikalische Begleitung, die pfiffigen Reime und die mal ironischen, mal ganz ehrlich intimen Texte. Vielleicht ist diesmal die Musik etwas spröder (eventuell ist „überschaubarer“ das richtige Wort). Aber es klingt, schauder, reichlich belanglos.

Ja, der Titelsong „Von hier an blind“ ist ein Hit. Geht ins Ohr, spielt mit Bildern und Worten und hinterläßt dieses Gefühl, es noch mal hören zu wollen, um herauszufinden, worum’s genau geht. „Gekommen um zu bleiben“, diesen trotzigen Pseudo-Swing, mochten wir ja auch schon vor dem Album-Release.

Aber hier: „Zuhälter“ – natürlich ein Song über die böse Plattenindustrie. „Ihr schickt meine Lieder auf die Straße / …. / Sie sollen sich verkaufen“, singt Judith da über das „kälteste Gewerbe der Welt“. Es ist ja immer faszinierend, wie immens erfolgreiche Bands über die Industrie jammern. Judith, wenn die Jungs von der Plattenfirma eure Lieder nicht verkaufen sollen, dann steigt halt aus. Das erreicht ungefähr den Glaubwürdigkeitslevel von „Y’all Want a Single“, wo Jonathan Davis sich voller Entrüstung darüber beschwert, daß die Firma eine kommerzielle Single seiner Band haben will – kurz nachdem er in Entsetzen über die schlechten Verkäufe des Vorgängeralbums einen Schnellschuß selbst produziert hat, der mit Nas-Gastauftritt und Back-to-Basics-Sound wieder Zugkraft beim Verkauf garantieren soll. Ach ja, und irgendwie mag Judith auch die Intervention der Plattenfirmen nicht, weil sie fragt „Sollen wir uns zügeln? Stört das beim Bügeln?“. Nett gemeint, aber irgendwie sinnfrei, wenn die Band so oder so super-gefällig klingt.

Puh-ha, und dann wäre da noch „Zieh dir was an“, über leichtbekleidete Hupfdohlen auf MTV. Sicher gut gemeint. Aber klingen tut’s dann doch nur bieder, irgendwie pikiert darüber, wie doof die anderen doch alle sind, und viel zu ernst sieht man da die Mißbilligung, die Empörung des Kleinbürgertums, und vielleicht auch ein bißchen Neid darüber, daß andere viel mehr verkaufen, obwohl sie’s gar nicht sollten. Klar sind die ganzen nackten Weiber auf den Klingelton-Kanälen fad und austauschbar, aber die sind doch die Aufregung gar nicht wert. Wir erinnern uns an Billy Corgan, der bei der Auflösung der Smashing Pumpkins über die hohen Verkaufszahlen der „Britneys dieser Welt“ gejammert hat, gegen die er nicht mehr ankämpfen will. Welche Entschuldigung hat denn da überhaupt jemand noch, Musik zu machen? Schön, wir schweifen ab. Liebste Helden, laßt die Mädels sich ausziehen, wenn sie wollen, und nehmt’s gelassen.

Und der Rest des Albums? Belanglos. Ganz nett. Okay. Hier eine gute Zeile, da ein guter musikalischer Einfall, aber raus ist’s aus dem Kopf, eh’s den CD-Player verläßt. In „Geht auseinander“ gibt Judith Beziehungstips (solche Leute würde man im wirklichen Leben meiden), „Nur ein Wort“ ist ein schöner verschollener Song aus der Zeit, als Wir sind Helden noch Nena hießen (minus die Atemgeräusche freilich). Und die einst so verschrobenen, aber durchaus gehaltvollen Texte borden jetzt immer öfter an der Banalität – für Reime der Marke „Blick-schick-Trick-dick“ wurde schon Madonna auf ihrem letzten Album gegeißelt.

Schlecht ist’s ja gar nicht, das Album. Nur irgendwie redundant – und das ist fast schlimmer. Dabei ist das Artwork so cool!

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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