A.I. – KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: Verstand vs. Gefühl

Film / Neuer als alt / 8. Dezember 2016

A.I. – KÜNSTLICHE INTELLIGENZ ist vielleicht Steven Spielbergs ambitioniertester und gleichzeitig frustrierendster Film. Man merkt ihm seine inneren Kämpfe an: Die bittere Dystopie gegen das aufregende Endzeitabenteuer, die philosophischen Fragen gegen das sentimentale Gefühl, der erwachsene Pessimismus gegen das kindliche Staunen, das nüchterne Auge eines Stanley Kubrick gegen die menschliche Wärme eines Steven Spielberg.

A.I. war ursprünglich ein Projekt von Kubrick, der die Geschichte über lange Jahre entwickelte, aber mit der Umsetzung vor allem deshalb zögerte, weil er Zweifel hegte, ob die Tricktechnik schon soweit sei. Mitte der Achtziger erzählte er erstmals seinem Freund Steven Spielberg von der Geschichte – und als er 1993 in JURASSIC PARK sah, was der aus den neuen digitalen Möglichkeiten herausholen konnte, wollte er ihm das Projekt übergeben. Spielberg lehnte ab, aber als Kubricks Witwe nach dessen Tod nochmal auf ihn zukam, setzte er den Film auf Basis des von Kubrick entwickelten Skripts und einigen hundert Konzeptzeichnungen um.

Der moderne Geppetto: Prof. Hobby (William Hurt).

In einer nicht weit entfernten Zukunft, in der die Klimakatastrophe Küstenstädte wie New York und Amsterdam unter Wasser gesetzt hat, sind menschenähnliche Roboter, sogenannte „Mechas“, allgegenwärtig. Ein brillanter Wissenschaftler mit dem ironischen Namen Hobby (William Hurt) will einen Schritt weitergehen: Er baut einen kleinen Jungen, der die bedingungslose Liebe zu seinen Eltern simuliert.

Dieses Mecha-Kind mit dem Namen David (Haley Joel Osment) kommt bei Adoptiveltern unter – aber als deren kranker Sohn, den sie dem Tode geweiht sahen, geheilt nach Hause zurückkehrt, herrscht Eifersucht zwischen dem echten Kind und dem künstlichen. Die Eltern entschließen sich, David wieder loszuwerden – aber die Mutter bringt es nicht fertig, das Roboterkind zur Demontage in die Fabrik zurückzubringen, und setzt ihn stattdessen im Wald aus. Fortan streift David durch die Welt, um wie im Pinocchio-Märchen die blaue Fee zu suchen: Er hofft, dass sie aus ihm einen echten Jungen machen kann, damit er von der Mutter wieder geliebt wird.

Mutter Monica (Frances O’Connor) aktiviert das Programm,
mit dem David (Haley Joel Osment) sie bedingungslos lieben wird.

Auch wenn das Grundgerüst der Geschichte inklusive ihrem Ende schon bei Kubrick angelegt war, ist doch deutlich, warum der den Film Spielberg anvertrauen wollte: Die Reise nach Hause ist ein zutiefst Spielbergsches Motiv, ob wörtlich genommen wie in E.T. – DER AUSSERIRDISCHE oder übertragen wie in SUGARLAND EXPRESS oder CATCH ME IF YOU CAN, wo die Zusammenführung der Familie ein in dieser Form nicht mehr existentes Zuhause wiederherstellen soll. Auf David trifft beides zu: Er will zu seinem tatsächlichen Heim zurückkehren und erhält eine artifizielle Kopie davon, auf schmerzliche Weise passend zu seiner eigenen Künstlichkeit.

A.I. packt viele Facetten in seine Zukunftsvision und muß deshalb mit mehrfachen Tonfallbrüchen leben. Da ist einerseits die Schreckensvision einer Welt, in der die Individualität – nicht erst seit DER SOLDAT JAMES RYAN eines der kostbarsten Güter in Spielbergs Welt – aufgehoben wird und damit das sichere Gefüge des familiären Zuhauses bedroht ist: David wird quasi als Ersatzkind für den echten Sohn herangeschafft, streift wie ein fremdartiger Geist durch die Wohnung und wird irgendwann als Bedrohung wahrgenommen. Auch für seinen Schöpfer, Dr. Hobby, ist David nur eine Art Stellvertreter: Er modellierte ihn nach seinem echten verstorbenen Kind, und in einer der unheimlichsten Szenen des Films stolpert David über eine Vielzahl an Kopien seiner selbst, die in den Laboratorien des Wissenschaftlers herangezüchtet werden.

Die Kopie der Kopie: David (Haley Joel Osment) ist nur einer unter vielen.

Gegen diese gespenstischen Brüche des natürlichen Selbstverständnisses steht der andere Teil des Films: die Außenwelt, in der Mechas als Liebesdiener fungieren, von aufgebrachten Menschen als „unnatürlich“ gehaßt werden, wie die Untoten Schrottplätze nach Ersatzteilen absuchen und in zirkushaften Veranstaltungen für die schaulustige Menge vernichtet werden. Von der kühlen Scheinwelt der Adoptivfamilie und des Schöpfervaters ist hier keine Spur: Diese Sequenzen sind als knallbuntes Abenteuer inszeniert – das Anti-Mecha-Spektakel wirkt inklusive Ministry-Auftritt, als hätte man Wacken nach Las Vegas verlegt, die Stadt mutet an, als wäre Willy Wonka der Regisseur von BLADE RUNNER. Und wie es sich für ein pinocchiohaftes Märchen gehört, verbindet diese Schauplätze ein Gruselwald, in dem selbst der lichtspendende Mond eine Gefahr bedeuten kann.

Am Schluß des Films, wo die Zukunftsvision am mutigsten und erschreckendsten wird, zerren die unterschiedlichen Ansätze des Films am spürbarsten aneinander. Es ist eigentlich ein pessimistisches Ende: Die Menschheit ist verschwunden, übriggeblieben sind nur die künstlichen Maschinen – und die sehen ironischerweise unseren Androidenjungen, der so gerne ein echter Mensch gewesen wäre, als direkteste Verbindung zu den mittlerweile unbekannten menschlichen Wesen an. Aber was gedanklich wie eine resignierte Umkehrung wirkt, funktioniert auf der Leinwand eher als bittersüße Erfüllungsphantasie: Die Szenen sind so beschäftigt mit Davids Wunsch nach seinem Zuhause, daß man kaum auf den Gedanken käme, der ausgelöschten Menschheit hinterherzutrauern.

Davids Begleiter Joe (Jude Law) im Geisterwald.

Man merkt es A.I. an, daß da ein Regisseur auf die Fragen eines anderen antwortet – aber beide nicht dieselbe Sprache sprechen. Kubrick war an den philosophischen Fragen zum Wesen des Menschen an sich interessiert, zum Verhältnis des Menschen gegenüber seiner Schöpfung, zu den Grenzen der Künstlichkeit. Auch Spielberg interessieren diese Themen, aber er betrachtet Menschlichkeit im Sinne von Humanität, Verantwortung im Sinne von Treue und Künstlichkeit im Sinne von Individualität.

Es ist spannend, daß hier Kopffragen mit dem Herzen beantwortet werden, und fast unumgänglich, daß dabei aneinander vorbeigeredet wird – und das wiederum ist zutiefst menschlich. Vielleicht ist A.I. gerade wegen dieses Scheiterns so lohnenswert.

 

 

A.I. – Künstliche Intelligenz (USA 2001)
Originaltitel: A.I.: Artificial Intelligence
Regie: Steven Spielberg
Buch: Steven Spielberg
Kamera: Janusz Kaminski
Musik: John Williams
Darsteller: Haley Joel Osment, Frances O’Connor, Sam Robards, Jude Law, William Hurt, Jake Thomas, Jack Angel (Stimme), Robin Williams (Stimme), Meryl Streep (Stimme), Ben Kingsley (Stimme), Chris Rock (Stimme)Die Screenshots stammen von der DVD (C) 2002 Warner Home Video GmbH.





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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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