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DER SOLDAT JAMES RYAN: Vom Krieg und der Sinnfrage

Nicht einmal der Soldat, der gerettet werden soll, versteht die Mission. Weil seine drei Brüder in kürzester Zeit hintereinander im Zweiten Weltkrieg gefallen sind, beschließt das Kriegsministerium, eine Einheit loszusenden, die den Gefreiten James Ryan aus dem Einsatz holen und nach Hause schaffen soll – mitten aus Frankreich, wo sich die Alliierten derzeit brutale Gefechte mit den deutschen Besatzungstruppen liefern. „It doesn’t make any sense“, schüttelt Ryan ungläubig den Kopf, als der Trupp ihn schließlich findet.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit wird in Steven Spielbergs DER SOLDAT JAMES RYAN immer wieder angesprochen: Wieso schickt man acht Mann los, um einen Einzelnen zu retten, wenn diese acht das potentiell nicht überleben? Was unterscheidet Ryan von all den anderen Soldaten? Er selbst weist darauf hin, daß er in diesem Krieg nichts Besonderes ist: „Why do I deserve to go? Why not any of these guys? They all fought just as hard as me“, fragt er.

James Ryan (Matt Damon, links) versteht nicht, warum gerade er gerettet werden soll.

Immer wieder gehen die Figuren im Film die Fragestellung mathematisch an: „When you end up killing one of your men, you see, you tell yourself it happened so you could save the lives of two or three or ten others. Maybe a hundred others“, sinniert der Anführer der Gruppe, Captain Miller. Unter seinem Kommando fielen bislang 94 Soldaten. „But that means I’ve saved the lives of ten times that many, doesn’t it? Maybe even twenty, right?“ Er rechnet Opfer gegen das erreichte Gute.

Auch als Zuseher knobelt man an der Frage – und perfiderweise bedeutet das, daß man dem Kriegsgeschehen generell potentiellen Sinn zugesteht: Wenn die hier gezeigte Mission keinen Sinn ergibt, heißt das, daß es andere gibt, die man als sinnvoller einstufen würde. Die Rettung eines einzelnen Menschenlebens ist im Krieg offenbar bedeutungslos – und genau darin liegt der Schrecken des Krieges: Er kümmert sich nicht um Individuen.

„He better be worth it“: Captain Miller (Tom Hanks) ist sich über den Sinn der Mission auch nicht im Klaren.

In den ersten fünfundzwanzig Minuten von DER SOLDAT JAMES RYAN kommt Spielberg diesem Schrecken so nah, daß es fast unerträglich ist. Alliierte Soldaten stürmen den Strand in der Normandie und geraten dabei in ein entsetzliches Inferno, bei dem nur das pure Glück über Leben und Tod entscheidet. Die Kamera ist wie bei einer Kriegsberichterstattung mitten im Geschehen, läuft mit den Soldaten um ihr Leben, nah am Boden, als müßte der Kameramann sich ebenso vor dem Kugel- und Granatenhagel ducken wie alle anderen. Das Meer färbt sich rot vor Blut, überall sind zerfetzte Körper zu sehen, und in dem Höllenlärm der Schüsse und Explosionen gehen Befehle ebenso wie Strategien völlig unter. Der brutale Realismus der Szene wird vor allem dadurch verstärkt, daß die Einstellungen so lange gehalten werden: Eben noch sehen wir, wie Soldaten von einer Granate getötet werden, dann hetzt die Kamera ohne Schnitt weiter, um irgendwie einen Überblick über das Geschehen zu bekommen. Einmal spritzt sogar Blut auf das Objektiv.

Einer der Gefallenen der Schlacht ist einer von Ryans Brüdern, was die eigentliche Handlung des Films in Gang setzt. Bei Erscheinen des Films wurde oft angesprochen, daß zwischen der schonungslosen D-Day-Darstellung am Anfang und der langen Suche nach Ryan danach ein harter Bruch durch den Film und seine Aussage geht: „Steven Spielberg hat mit ‚Der Soldat James Ryan‘ im Grunde zwei Filme gedreht: ein zwanzigminütiges Meisterwerk der Kriegsdarstellung, und einen ordentlichen, zweieinhalbstündigen Soldatenfilm. Den einen, längeren Film kann man sich anschauen, wenn man will; den anderen, kürzeren darf man auf keinen Fall verpassen“, schrieb „Die Zeit“-Korrespondent Andreas Kilb in seiner Kritik für die Zeitschrift Cinema.

Eins von vielen Schreckensbildern der Anfangssequenz: Ein Soldat will seinen abgerissenen Arm retten.

Tatsächlich behandelt Spielberg aber auch in dieser Anfangssequenz schon das Thema, das ihn auch den Rest des Films über beschäftigt: die Frage nach dem Wert des Individuums. Immer wieder werden Soldaten gezeigt, die für uns durch ein spezifisches Detail aus der Masse herausstechen – und immer wieder zeigt sich, daß das Kriegsgefecht keinen Unterschied zwischen ihnen macht. Ein Soldat wird fast durch eine Kugel getötet, die aber an seinem Helm abprallt – aber als er den Helm abnimmt und untersucht und dabei sein Glück kaum fassen kann, wird er durch einen weiteren Kopfschuß getötet. Bei einem Verwundeten kann der Sanitäter die Blutung stoppen – und dann trifft eine Kugel den Soldaten in den Kopf. Andere Soldaten stechen nur durch ihre grausamen Verletzungen heraus, wie der Mann, der wie in Trance auf dem Strand nach seinem abgerissenen Arm sucht. Nicht zuletzt ist Ryans Bruder nur ein Opfer unter vielen: eine anonyme Leiche, die neben toten Fischen im Sand liegt.

Mit der Unbarmherzigkeit seiner D-Day-Sequenz bereitet Spielberg auch den Boden vor, auf dem die immer wieder gestellte Sinnfrage überhaupt greift. Erst angesichts des kriegerischen Blutbads kann einem die Frage, welchen Sinn die Rettung eines einzelnen Menschenlebens macht, überhaupt erst paradox erscheinen. Was ist sinnloser: das Sterben von tausenden Soldaten im Kampf gegen Unterdrücker oder das Sterben einiger Menschen bei der Rettung eines Einzelnen? Nein, es gibt keine wirkliche Antwort auf die Frage – die noch dazu vielleicht auf dasselbe hinausläuft, einmal im großen politischen Kontext und einmal im kleinen individuellen.

Die Antwort auf die Frage, warum es Sinn macht, James Ryan zu retten, gab Spielberg allerdings schon einige Jahre zuvor in seinem Holocaust-Drama SCHINDLERS LISTE. Dort ließ er Itzhak Stern aus dem Talmud zitieren: „Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

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Der Soldat James Ryan (USA 1998)
Originaltitel: Saving Private Ryan
Regie: Steven Spielberg
Buch: Robert Rodat
Musik: John Williams
Kamera: Janusz Kaminski
Darsteller: Tom Hanks, Matt Damon, Edward Burns, Tom Sizemore, Adam Goldberg, Vin Diesel, Giovanni Ribisi, Jeremy Davies, Ted Danson, Paul Giamatti, Dennis Farina, Joerg Stadler

Die Screenshots stammen von der Blu-Ray (C) 2010 Paramount Pictures.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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