Uncategorized

URBAN LEGENDS: Antikino als Frankenstein-Flickwerk

URBAN LEGENDS –ganz klar, das ist dieser Retro-Slasher mit Robert Englund, bei dem eine Gruppe von Studenten nach den Vorbildern urbaner Legenden stirbt. Oder? Von wegen: URBAN LEGENDS (manchmal auch URBAN LEGEND) ist ein Frankensteinsches Schnodderfilmchen von Bill Osco und Carl Crew, die zuvor schon den Stinkefilm GROSS OUT auf die „Midnight Movie“-Zirkulation losgelassen haben. Das war eine derb geschmacklose, notdürftig zusammengeschraubte Ansammlung von Fäkalwitzen, die für jene Zuseher gedacht war, die gezielt nach wüstem Antikino suchen. URBAN LEGENDS ist das, was passiert, wenn man dabei die Fäkalwitze weglässt.

Trotz der Vermarktung im Sinne von DÜSTERE LEGENDEN ist URBAN LEGENDS kein Horrorfilm, aber immerhin ist er in vielerlei Hinsicht absolut grauenerregend: Niveau, Qualität, Humor und Inhalt rufen eine Vielzahl intensiver Emotionen hervor. Zum Beispiel Ärger – vielleicht, weil man Geld für dieses Flickwerk ausgegeben hat, vielleicht aber auch, weil man sich von vorne bis hinten veralbert fühlt. Dann tun einem die Beteiligten plötzlich kurz leid: Was ist, wenn die das ernst meinen? Auch hochgradige Verwunderung macht sich breit: Was zur Hölle ist das überhaupt, was da über den Schirm flimmert? Wer hat das durchgewunken, was soll der Käse? Und dann schämt man sich auch ein wenig – entweder für die, die da mitmachen, oder für sich selbst, weil man nicht wollen würde, daß jemand dabei zusieht.

Nicht zu Hause ausprobieren: Für solche Filme braucht man Profis.

Also: URBAN LEGENDS ist kein Spielfilm. Es ist eine Art Comedy-Programm, das in kurzen, moderierten Sequenzen Horror-Kurzfilme aneinanderreiht. Die drehen sich angeblich um urbane Legenden, aber nur die erste greift tatsächlich eine solche auf – den entflohenen Irren mit dem Haken an der Hand, der des Nachts ein Paar im geparkten Auto anzugreifen droht. Der Rest verzapft einfach irgendwelchen bizarren Unfug – zum Beispiel von einem wahnsinnigen „Vampire Eye Surgeon“, der einem Patienten das Auge herausoperiert und daran herumlutscht.

Sämtliche Segmente sind aggressiv auf Trash getrimmt; es gibt hier und da ein paar Bluteffekte, aber die sind kaum ernstzunehmen. Stattdessen regiert das Schrille und Absonderliche: Menschen in merkwürdigen Kostümen hampeln sich durch schräge Szenerien, unser Moderator kommentiert das Ganze abfällig, und es werden Gelächter und andere Publikumsgeräusche darübergelegt. Daß zu Beginn des Films gewarnt wird, daß sich Menschen mit schwachen Nerven das alles lieber nicht ansehen sollten, und daß die gezeigten Fälle irgendwelche FBI-Unterlagen entnommen wurden, verstärkt nur den Verdacht, daß sich Produzent Bill Osco und Autor, Darsteller, Produzent und Mädchen-für-Alles Carl Crew mit dem ganzen Projekt einen blöden Jux erlauben.

Wir wollen nicht verschweigen, daß die Machart des Ganzen den Zuseher absolut perplex zurückläßt. Man mag URBAN LEGENDS schnodderig nennen, man könnte ihn als amateurhaft bezeichnen – aber selbst ein noch so schnoddriger Amateurfilm sieht besser aus als das unterbelichtete 16mm- und Camcorder-Herumgefilme, das sich hier entfaltet. Manchmal sieht man gar nichts, dann verzerrt der Ton plötzlich, die Geräusche des künstlichen Publikums übertönen mitunter jeden Dialog, und die Bildqualität sieht so aus, als würde jemand die Kopie einer Kopie einer Kopie zeigen. Wie bei GROSS OUT schwebte den Machern ganz wüster filmischer Underground-Punkrock vor.

Moderator Rusty De Fage (Dino Lee).

Da paßt es ja, daß Moderator Rusty De Fage von Rock’n’Roll-Sänger Dino Lee gespielt wird – mit immenser Perücke und richtig miesen Witzen. Lee, der selbsternannte „King of White Trash“, galt in den Achtzigern als Kultfigur in der Punkszene von Austin und war auch schon mit seiner Band in der von Osco produzierten Horrorkomödie BLOOD DINER zu sehen. Nein, es macht seinen Kommentar nicht einen Deut lustiger – obwohl noch zu Beginn Einstellungen eines Tränen lachenden Publikums in die Moderation hineingeschnitten wird, obwohl Lee völlig offensichtlich in statischer Einstellung abgefilmt in einem ganz anderen Raum sitzt!

Apropos hineingeschnitten: An allen Ecken und Enden hat Osco Material aus anderen Produktionen in URBAN LEGENDS gequetscht. Immer wieder tauchen Sketche mit Murray Langston auf, dem papiertütentragenden „Unknown Comic“, der die Hauptrolle in dem 1984 von Osco produzierten Film POLICE PATROL hatte. Diese Segmente (wie auch die anfänglichen Publikumseinstellungen) stammen aus dem 1982 von Osco betreuten Comedy-Zusammenschnitt THE UNKNOWN COMEDY SHOW. Nebenbei gibt es ein paar Einstellungen des Monsters aus der Osco-Produktion THE BEING sowie gelegentliche Nahaufnahmen von weiblichen Geschlechtsteilen, die aus dem Osco-Projekt PINK TV stammen – einer Art Porno-MTV, das Osco im Kabelfernsehen unterbringen wollte. Eine der Frauen sitzt übrigens auf der Toilette, aber es wird dankenswerterweise weggeschnitten, bevor es zu Unappetitlichkeiten kommt.

Der Wahnsinn greift um sich.

Eigentlich, so verrät uns Carl Crew, der Igor zu Oscos Frankenstein, in seinem Audiokommentar, wäre URBAN LEGENDS so konzipiert gewesen, daß es eine zusammenhängende Handlung gegeben hätte: Einer Frau wären nach und nach verschiedene urbane Legenden begegnet, bis sie zum Schluß selber zu einer wird. Osco stufte das Skript als zu teuer ein und gab Crew eine Woche Zeit für etwas Preisgünstigeres. Daß Lee über die einzelnen Segmente sprechen sollte, stand nicht im Skript, sondern ergab sich laut Crew nach und nach beim Dreh – offenbar, weil man merkte, dass das Material sonst nicht zu gebrauchen wäre: „It was a way to save all these other horrible scenes“. Obwohl er im Abspann als Cutter gelistet ist, sagt Crew, daß er nach dem Dreh frustriert das Projekt verlassen habe und die Post-Produktion von Hollywood-Veteran Lucky Brown überwacht wurde, der zum Beispiel die merkwürdigen Comic-Sounds und Publikumsgeräusche einfügte. Das Schnittpuzzle aus den anderen Projekten wurde dann von Osco angefertigt.

Dank des wilden Flickwerks, bei dem natürlich nicht einmal das Filmmaterial hinsichtlich der Qualität aneinanderpaßt, wirkt URBAN LEGENDS wie ein von einem wahnsinnigen Wissenschaftler zusammengezimmertes Experiment, das aus dem Labor entkommen ist. Diese Machart ist aber auch das einzige, was hier das Interesse aufrechterhält: Die einzelnen Horror-Segmente sind strunzlangweilig und werden durch das darübergelegte Geplapper und Gejohle nicht besser, die Comedy mutet an wie vom Neptun zu uns herübergefunkt. Nur das beständige Knobeln, wie so eine Filmmutation überhaupt zustandekommt, kann einen hier über Wasser halten.

Mehr Bill Osco auf Wilsons Dachboden:
COP KILLERS: Ein leerer Amoklauf durch Amerika
FLESH GORDON: Zoten und Zeitgeist
THE UNKNOWN COMEDY SHOW: Der Witz aus der Papiertüte
THE BEING: Ein radioaktives Monster bedroht die Kartoffelernte
POLICE PATROL – DIE CHAOTENSTREIFE VOM NACHTREVIER: Welcher Furzfilm könnte besser sein?
NACHTAKADEMIE: Schnodderkino mit humanistischer Gesinnung
CAT FIGHT WRESTLING: Furiose Frauenzimmer in leeren Lagerhallen 

Urban Legends (USA 1994)
Alternativtitel: Urban Legend
Regie: „Januse Alucard Stelloff“ (= Bill Osco)
Buch: Carl Crew
Musik: Dino Lee
Kamera: Mark Melville
Produktion: „Mr. Osco“ (= Bill Osco), Carl Crew
Darsteller: Dino Lee, Carl Crew, Diane Nelson, Bob Blaine, Susie Campbell

Der Film wurde nie im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Er ist als Einzelveröffentlichung von MVD erhältlich und als Bonus-Feature auf der DVD „The Unknown Comedy Special“. Der Audiokommentar mit Carl Crew ist nur auf letzterer Veröffentlichung zu finden. Die Screenshots stammen von  dieser DVD.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    Comments are closed.

    0 %