Wo sind all die Konsumenten hin?

Uncategorized / 30. Oktober 2006

Alain Levy, der CEO von EMI, einem der Branchenriesen, gab zu Protokoll: „The CD as it is right now is dead“ (Artikel hier). Das wissen wir mittlerweile alle, und wir wissen auch, daß die Kinder auf den Schulhöfen mp3s viel cooler finden als Vinyl, was wir auch nicht ändern können. Das Stöbern im Netz ist für die eben das, was für uns das Stöbern im Plattenladen war – nur bequemer. Levy sieht allerdings noch Zukunft für physische Datenträger: „You’re not going to offer your mother-in-law iTunes downloads for Christmas“, gibt er zu und denkt über neue Vermarktungskonzepte und mehr Bonusmaterial nach. Vielleicht sollte ihm mal jemand Christophs Gedanken zur Preispolitik von Bonusmaterial-Musik schicken.

Noch eine Überlegung unsererseits: Wie schaffen es in Zeiten, wo angeblich so wenig CDs gekauft werden, doch immer noch Musiker, zig Millionen Scheiben an den Hörer zu bringen? Vielleicht will einfach nur niemand den Wegwerf-Pop kaufen, den man ohnehin nicht als Album braucht, weil der Durchschnittshörer nur die zwei, drei Singles darauf hören will. Früher hießen solche Einzeltrack-Künstler singles artists, weil sie eben auch am besten darin waren, einzelne Lieder zu verkaufen. Natürlich bietet sich das mp3-Downloaden besonders für solche Interpreten an, und weniger für Konzeptalbum-Bands wie Tool (die übrigens ohnehin darauf bestehen, daß man ihre Musik wenn, dann nur als Komplettalbum downloaden kann). Aber selbst wenn man sich die Verkaufszahlen vom letzten Nickelback-Album ansieht (3 Millionen plus allein in Amerika, da ist unser täglich „Photograph“ in D/Ö gar nicht mitgerechnet), kann das Problem doch nicht am Kaufverhalten der Hörer liegen, oder? Wo liegt es dann? (Dear Alain Levy, das tollste Packaging verkauft keine fade Musik.)

Weil’s so schön ist, noch ein bißchen Branchenpessimismus: „MySpace is so last year,“ schreibt die Washington Post (hier). Nachdem die Firma News Corp. letztes Jahr die Seite für $580 Mio. gekauft hat (das sind Geldsummen, wo die Menge irgendwie abstrakt wird), suchen sich mittlerweile haufenweise Teenager (nie vergessen: das sind die kaufkräftigsten Konsumenten) grünere Gefilde anderswo. Sehr lieb erklärt ein befragter Jugendlicher sein Abwandern von MySpace: „I thought it was kind of pointless“.

Den Aufstieg von MySpace als Musik-Plattform habe ich über ein paar Jahre mitverfolgt; nach wie vor ist die Seite als Präsentationsforum für die eigene Musik unschlagbar. Nicht nur, weil man sich problemlos ein paar Songs anhören kann, sondern weil man durch das Freundes-Netzwerk auch ständig auf neue Musiker stößt. Problematisch wird die Angelegenheit für die Investoren von News Corp. natürlich dann, wenn das Zielpublikum (die Musiker sind ja nur die „Anbieter“, sozusagen, denn irgendwer von außerhalb soll sich den Krempel ja auch anhören und bitteschön konsumieren) abwandert und einen Kreis von Eingeweihten zurückläßt, die ohnehin schon voneinander wissen.

Eine Plattform wie MySpace (und jede andere ähnlich konzipierte Plattform) hat aber auch ein ganz anderes Problem: Es tummeln sich soviele Musiker dort herum, daß die Aufmerksamkeitsspanne für neue Musik immer weiter sinkt. Man hört sich bestenfalls ein paar Sekunden eines neuen Songs an, bevor man sich weiter durchklickt. Weil alles dort gratis zu hören ist, ist die Musik ja auch nichts wert, und die Zeit, sich mit der Musik auseinanderzusetzen, nimmt man sich nicht. Ebenso problematisch: Der größte Künstler sitzt virtuell direkt neben dem belanglosen Amateur, und wir selbst müssen die Entscheidungen fällen, womit wir unsere Zeit verbringen wollen. Was manche als große Freiheit empfinden (keiner gibt uns vor, was wir auf MySpace zu hören haben), resultiert darin – nicht zuletzt eben wegen der verringerten Aufmerksamkeit – daß wir gar niemandem mehr wirklich zuhören, weil wir total überflutet werden, und im Dickicht der Jeder-macht-Musik-Zeiten orientierungslos zurückbleiben. In CD-Käufen wird das Herumsurfen auf MySpace jedenfalls in den seltensten Fällen resultieren.

Now playing: BROKEN FLOWERS – Music from the Film
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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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