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Scissor Sisters: Ta-Dah (2006)

Light aus, womm, Spot an, ja!

Zeitreise mit den Scissor Sisters: Ihr Album TA-DAH! zaubert die Siebziger zurück auf die Tanzfläche – knallbunt und schwer unterhaltsam.

Den Scissor Sisters hat noch kein einziger Mensch verraten, daß Disco im Allgemeinen und die Bee Gees im Speziellen nicht mehr „in“ sind. Und – um Mißverständnissen gleich vorzubeugen – das ist auch gut so. Sollte irgendjemand in ihrem Umfeld tatsächlich mal auf die Idee kommen, die Truppe beiseite zu nehmen und ihnen Bescheid zu geben, daß wir jenseits des Jahres 2000 leben, daß Hedonismus (musikalisch wie persönlich) gar nicht mehr gefragt ist und die Musikfreunde lieber echt als theatralisch konsumieren, dann würden die Sisters aufhören, so quietschbunte Bonbons zu produzieren, und ihr quicklebendiges Theater der Farben würde unter der herabfallenden Discokugel zerbrechen.

Über die Scissor Sisters liest man derzeit sehr viel in ein- und ausschlägigen Magazinen, und die Journalistenpflicht scheint einige Standardobservationen zu beinhalten, die an dieser Stelle selbstverfreilich erwähnt werden wollen: Der Bandname „Scissor Sisters“ rührt von der evokativen Bezeichnung für eine lesbische Sexstellung her – wer die Phantasie nicht bemühen mag, wird sich über einschlägige Zeichnungen auf Wikipedia freuen. In England sind die Scherenschwestern das nächste große Ding, wie man so schön sagt, und verkaufen mehr Platten als ich Fanpost kriege. Besonders beliebt sind die US-Amerikaner aber auch in der Queer-Szene von New York, aber welche sexuelle Orientierung die vier Burschen mit ihrem einsamen Mädel tatsächlich besitzen, dürfen trendigere Magazine als dieses hier gerne im Gespräch mit den Village People erörtern.

Das soll uns aber gar nicht groß von der Musik ablenken, die – TA-DAH! – wie eine berauschende Wundertüte mit vielen Farben und Düften beim Öffnen die Sinne benebelt. Es beginnt gleich mit dem augenzwinkernden „I Don’t Feel Like Dancin'“, zu dem Elton John am Piano begleitet und wir zurück in die späten Siebziger katapultiert werden, als die Bee Gees mit Helium-Gesängen omnipräsent waren. „She’s My Man“ erinnert eher an Kiss zu ihrer UNMASKED-Zeit – die ja auch schwer im Glitzer getränkt war – und bereitet den Weg vor für das burleskenhafte „I Can’t Decide“, wo Shears gesteht: „It’s a bitch convincing people to like you“. Mangelnde Anstrengung kann man der Gruppe sicher vorwerfen.

Ob nun der knackende Funk von „Ooh“, die frenetische Liebeserklärung „Paul McCartney“ („When you’re singing, I’ll be with you ‚till the exit line“, heißt es da), das rockige „Kiss You Off“ (auch hier ist das Wort „Kiss“ nicht zufällig im Songtitel enthalten), oder der Seitensprung ins Cabaret mit „Intermission“, wo Jean Genets Geist durch die Musik weht, die Musik bleibt voller Überraschungen und ist derart opulent-bunt verzerrt, daß man gar nicht anders kann als sie zu mögen. Die Sisters sind Theater pur, Bewegung und Drama, Tanz und Pathos, Farbe und jubilierende Epik. Oder weniger ausufernd formuliert: Sie machen Spaß.

Dieser Text erschien zuerst am 21.9.2006 bei Fritz!/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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