Ray Charles: Rare Genius – The Undiscovered Masters (2010)

Musik / Uncategorized / 11. Dezember 2010

Große Künstler lassen sich durch eine Kleinigkeit wie den eigenen Tod kaum davon abbringen, weiterhin produktiv zu sein. Sei es nun Jimi Hendrix, der uns seit nunmehr 40 Jahren aus anderen Sphären mit stets neuem Material versorgt, oder Tupac Shakur, der auf der anderen Seite viel fleißiger zu sein scheint als noch im Diesseits – der Tod ist kein Hinderungsgrund für neue Veröffentlichungen; wie jüngst auch bei Michael Jackson, der offenbar erst sterben mußte, bevor er sein Comeback-Album endlich fertigstellen konnte. Bei Ray Charles, der uns immerhin auch schon vor 6½ Jahren verlassen hat, hielt sich die Flut nachträglicher CD-Releases bislang in Grenzen: Da gab es bislang nur das sehr durchwachsene Duettalbum GENIUS & FRIENDS (klar an sein letztes Album GENIUS MEETS COMPANY angelehnt) sowie ein halb neueingespieltes Treffen mit der Count Basie Bigband namens RAY SINGS, BASIE SWINGS. Mit RARE GENIUS – THE UNDISCOVERED MASTERS wird nun weiteres Archivmaterial präsentiert – und das ist so gut, daß es die Latte für posthume Veröffentlichungen sehr, sehr hoch legt.

Ein halbes Jahr lang wühlte Concord-Chef John Burk, der als Co-Produzent an GENIUS MEETS COMPANY beteiligt war, durch die Archive von Rays RPM-Studio, in denen hunderte von Songs quer durch die Dekaden lagerten. Die zehn Songs, die er letztendlich ausgegraben hat, stammen aus den Jahren 1972 bis 1995, und es ist ein Tribut an Rays einzigartigen Stil, daß die Stücke, die einen Zeitraum von 23 Jahren umspannen, sich zu einem absolut homogenen Album zusammenfügen.

Vier der Lieder waren bereits fertig, die anderen befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung und wurden mit Sessionmusikern ergänzt – teils fehlten nur Schlagzeug und Bass, teilweise aber auch die komplette Band. Burks Verdienst ist es dabei nicht nur, daß er die Nachproduktion so respektvoll angeht, daß man ohne die detaillierten Notizen im Booklet gar nicht wüßte, wo gebastelt werden mußte und wo schon alles an Ort und Stelle war, sondern auch, daß er die Songs tatsächlich danach ausgesucht und sequenziert hat, daß sie ein Ganzes ergeben: Ein neues Ray-Charles-Album mit knapp 42 Minuten Lauflänge, im Gegensatz zu einer ausufernden Ansammlung von unterschiedlichen Einzeltiteln.

Kurz gesagt: Ray ist in Bestform auf allen Stücken. Er bewegt sich auf seine gewohnt souveräne Weise durch Soul, Funk, R&B, Country und andere Genres; er läßt sich von Uptempo-Bläsern vorantreiben, von Streichern einbetten, vom langsamen Blues auffangen, von Freude und Herzschmerz leiten. Und immer ist da seine Stimme, dieses warme Raspeln, die spielerische Phrasierung, mit der er selbst noch seine billigst produzierten Alben hörenswert machte, und die einem auch hier immer so viel mehr erzählt als nur das, was da im Text gesagt wird.

Zu den absoluten Highlights gehört wohl der lässige Funk „I’m Gonna Keep On Singin'“, 1995 aufgenommen, mit wunderbarer Begleitung im Stil der Raelettes, tighten Bläsern und einem ausgelassenen Keyboard-Solo von Ray am Ende. Nicht minder fantastisch sind die Balladen „Wheel of Fortune“ und „A Little Bitty Tear“ – beides im positivsten Sinne des Wortes genau die prächtigen Schmachtfetzen, wie nur Ray sie immer wieder singen konnte, ohne dabei auch nur einen Hauch klebrig zu werden. Bluesgitarrist Keb‘ Mo‘ spielt ein Solo mit viel Understatement auf dem erdigen „There’ll Be Some Changes Made“, aber das Solo von Sessiongitarrist George Doering auf „Isn’t It Wonderful“ ist ebensowenig zu verachten.

Der letzte Song des Albums ist übrigens nicht aus den RPM-Archiven. Es ist ein Duett mit Johnny Cash, das seit 1981 bei Sony lag und aus unbekannten Gründen nie veröffentlicht wurde. Cash singt Kris Kristoffersons „Why Me, Lord?“, Ray spielt dazu Piano und singt Backup, und während durch den Fokus auf Cashs Stimme der Song zunächst wie ein reiner Johnny-Cash-Song wirkt, braucht man sich nur im Vergleich Kristoffersons Original anzuhören, um dann hier Rays R&B-Piano sofort herausstechen zu hören. „I have prayed for a record like this for 25 years“, schreibt Cash in einem im Booklet abgedruckten Brief an Ray.

Ehrlich: RARE GENIUS ist ein vollwertiges Ray-Charles-Album, das ohne Probleme Seite an Seite mit vielen seiner anderen Aufnahmen stehen kann. Und dann stellt sich die Frage, ob es denn gierig wäre, sich über weitere etwaige Schätze in Rays Archiven Gedanken zu machen …?

—————–
4 8 15 16 23 42






Avatar-Foto
Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





You might also like