Herbie Hancock in der Münchner Philharmonie: Eine Entdeckungsreise durch vertrautes Terrain

Musik / 17. November 2019

Über die Jahre und Jahrzehnte betrachtet ist es spannend, wie Herbie Hancock immer wieder zu seinen Kompositionen zurückkehrt – und sie dabei so erforscht, als wären sie Neuland. Auch in seiner jüngsten Konzertreise, die ihn am 13. November 2019 in die Münchner Philharmonie führte, greift er auf sein altes Repertoire zurück und findet in den erstaunlich elastischen Stücken immer wieder neue Räume.

Das liegt freilich auch immer an den Mitstreitern, mit denen Hancock sich umgibt. Aktuell sind das Bassist James Genus (der ihn schon vor zwei Jahren begleitete), Gitarrist Lionel Loueke (mit dem er mittlerweile schon seit langen Jahren spielt), Drummer Justin Tyson (bekannt durch Robert Glasper), und die junge Flötistin Elena Pinderhughes. Das 24-jährige Wunderkind (sie spielt, seit sie 7 ist, und nahm ihre erste CD mit 9 auf) ist die Entdeckung des Abends: Souverän und leichtfüßig spielt sie in ihren Soli mit dem Rhythmus, tanzt mal darüber, nähert sich ihm an, nur um ihm dann wieder davonzuflitzen. Tyson treibt die Band mit harten Beats voran und packt einen rauen Funk in sein Spiel, Genus dagegen erdet den Rhythmus mit gelassener Präzision. Nur Loueke ist einmal mehr schwer zu greifen: Mal gibt er den Wah Wah Watson, dann spielt er beinahe ein Rock-Solo oder sorgt mit schimmernden Klängen für die Atmosphäre an den Rändern der Songs. Vermutlich arbeitet Hancock gerade deshalb so gerne mit Loueke zusammen, weil der sich wie ein Chamäleon anpasst – allein die musikalische Persönlichkeit bleibt bei dem Gitarristen eher schwammig.

Herbie selber ist in bester Laune an dem Abend. Mit strahlendem Gesicht schaut und hört er seiner Band zu, als hätte er selber die größte Freude daran, wohin ihn deren Abenteuerlust führen wird. Seine Soli auf dem Piano und dem Keyboard sind im Laufe der Jahrer kantiger geworden, aber die warmen Läufe und die Momente, in denen er mit wiederholten Phrasen die Songs zum Kochen bringt, sind stets unverwechselbar. Mehrmals hängt er sich sein Clavitar um und wandert über die Bühne, und er sieht dann mit seinen 79 Jahren immer noch wie ein kleiner Junge aus, der großen Spaß an der Phantasie hat, einmal Rockstar sein zu können. Herbies Spielfreude ist inspirierend, man sieht es den Musikern wie auch dem Publikum an.

„Butterfly“ ist im Programm, wird aber so von innen nach außen gekrempelt, dass es wie eine Neukomposition wirkt. „Actual Proof“ und „Chameleon“ klingen vertrauter, aber erinnern doch in der aktuellen Besetzung nie wirklich an die Headhunters. Auch „Cantaloupe Island“ darf nicht fehlen, und Herbie packt sogar „Come Running to Me“ aus, aus jener Zeit, als er in Richtung Disco schaute und Pionierarbeit am Vocoder leistete. Den wirft er auch hier wieder an – nachdem ein Techniker das störrische Gerät dazu überredet hat, während die Band die technische Panne mit lockerem Groove überspielt.

Als Zugabe gibt es, jawohl, „Chameleon“. Hatten wir schon? Macht gar nichts: Die Band feiert den unwiderstehlichen Hook des Songs, während Hancock auf dem Clavitar das längste Solo des Abends spielt. Das Publikum der fast ausverkauften Philharmonie (2.572 Sitzplätze) belohnt ihn für das zweistündige Konzert mit donnerndem Applaus und Standing Ovations. Es bleibt eigentlich nur ein Wunsch: Wann kommt denn endlich mal das neue Album, das Herbie schon seit Jahren ankündigt …?

Photos: Anne Jokel






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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