Musik

Jazz & The City 2019: Salzburgs Jazz-Festival feiert sein 20-jähriges Jubiläum

Schon seit geraumer Zeit freue ich mich auf das diesjährige „Jazz & the City“-Festival – genaugenommen seit letztem Jahr, als ich bei diesem üppigen Event (bei dem alle Konzerte gratis angeboten werden!) unter anderem die belgische Jazzgruppe Black Flower, den afrikanischen Musiker Herve Samb und das spannende Quartett Spirit Cave mit Marilyn Mazur, Nils Petter Molvær, Eivind Aarset und Jan Bang hören konnte. 2019 feiert das Festival (das früher „Jazz in der Altstadt“ hieß) sein 20-jähriges Jubiläum, und mehr als zuvor besetzt es alle Winkel und Ecken der Mozartstadt: Ob Konzertsäle, Cafés, Kirchen oder Werkstätten, vom 16.-20. Oktober wurde überall Jazz (und mehr) geboten. Mit meiner Freundin und meiner Mutter plante ich im Vorfeld mithilfe des umfangreichen, schön gestalteten Booklets die fünf Festivaltage, in die wir uns mit Entdeckerlust hineinstürzten.

Den Auftakt gaben uns am Mittwochabend Dudu Tassa & the Kuwaitis in der Szene Salzburg. „Iraq’n’Roll“ nennen die ihre Mischung aus Rock, nahöstlichen Klängen, pulsierender Elektronik und alten arabischen Liedern, die Tassas Großvater Daoud Al-Kuwaita (der 1948 nach Israel vertrieben wurde) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen mit seinem Bruder Saleh schrieb. Tassas Gesang (in irakischem Arabisch) ist dabei eigentlich das am wenigsten exotische Element der Gruppe – er klingt wie andere arabische Popstars. Aber das Gebräu, das seine Band auf die Bühne brachte, war eine aufregende, wahrhaft grenzensprengende Mixtur, die sich auch rein optisch schon in der Band niederschlug: Während Drummer Dan Mayo und Keyboarder Eyal Yonati nach New Yorker Indie-Band aussahen, wirkte Kanun-Spieler Ariel Qassus, gleichsam konzentriert wie entspannt am Rande der Bühne sitzend, als hätte jemand seinen Papa in die Band geholt. Hinter ihm die Cellistin Mira Abu Elassal, die umso jünger wirkt. Nach der Show habe ich mir das zweite Album ALA SHAWATI der Band gekauft und von Tassa selbst signieren lassen.

Der Donnerstag begann eher ruhig: Sängerin Somi ließ ihr zweites Set im Café Tomaselli gesundheitsbedingt ausfallen – was wir erst erfuhren, als Kaffee und Sachertorte schon bestellt waren. Auch am Abend gab es eine Planänderung: Der Franzose Loup Barrow konnte wegen eines familiären Notfalls nicht nach Salzburg kommen, weswegen die Band Silent Witness ohne ihn in der Kollegienkirche spielte. Die Gruppe schaffte es aber auch so, den großen Raum der Kirche, in dem selbst der kleinste Ton immensen Hall produziert, mit einem spannenden Set zu füllen. Die Japanerin Mieko Miyazaki spielte auf der Koto und sang, dazu produzierte der Pole Bond elektronische Ambient-Klänge und spielte den Bass – es erinnerte mitunter an eine etwas ätherischere Version einer Bill-Laswell-Produktion (leider verzerrte die Anlage einige Töne). Später gesellte sich noch Igor Pietraszewski auf der Shakuhachi hinzu, einer japanischen Flöte. Auch hier habe ich nach der Show das Album gekauft und konnte es von Miyazaki und Bond signieren lassen – letzterer erzählte mir in einem kurzen Plausch noch, dass dies das erste Konzert der Gruppe überhaupt sei und sie dementsprechend nervös waren, wie es funktionieren würde.

In der Szene hatte derweil schon die norwegische Band Splashgirl angefangen, bei der Gitarrist Stian Westerhus als Gast spielte. Der Beschreibung der Gruppe als Mischung aus Krautrock, Weather Report und BLADE RUNNER machte hier besonders neugierig – und traf auch durchaus zu: Da traf die vertrackt-versponnene Krautrock-Rhythmik auf die lose Improvisation früher Weather-Report-Aufnahmen irgendwo zwischen dem Debüt und dem SWEETNIGHTER-Album, während darüber flächige Synthesizer schwebten. Die Band spielte sich immer wieder in eine hypnotische Intensität hinein, die Westerhus mit seinen exotischen Gitarrenexperimenten füllte. Und wieder habe ich nach der Show eine CD gekauft – das aktuelle Album SIXTH SENSE, das ich mir von Bassist Jo Berger Myhre und Pianist Andreas Stensland Løwe signieren lassen konnte.

Und wenn man schon in der Szene sitzt und nichts mehr geplant hat, kann man auch gleich für die darauffolgende Gruppe sitzenbleiben: Nubiyan Twist nannte sich die britische Band unter Leitung von Gitarrist Tom Excell, die eine kochende Funk-Jazz-Mischung auf die Bühne brachte – eine Jamiroquai-Mixtur aus Hip-Hop-Rhythmen, Jazzbläsern, starken Funk-Grooves, Soul-Gesang und allem, was sich irgendwie bewegt. Vor allem Drummer Finn Booth beeindruckte mit seinen ebenso lässigen wie präzise scharfen Beats; überhaupt wirkte die Band so, als wäre ihre unglaublich tighte Musik ganz locker aus dem Ärmel geschüttelt. CDs hatte die Gruppe nach dem Auftritt leider keine, aber ich konnte kurz mit Trompeter Jonny Enser reden, der mir erzählte, dass es für die Band merkwürdig und schwer einzuschätzen sei, wenn die eine Hälfte des Saals tanzt, während die andere gemütlich auf ihren Stühlen sitzenbleibt.

Der Freitag bot die wohl ungewöhnlichste Spielstätte des Festivals: Der Salzburger Schirmmacher und Tabla-Spieler Tobias Ott lud in seiner kleinen Werkstatt mitten in der Getreidegasse zu einem kleinen Konzert ein, das unter dem Projektnamen diAlog geführt wurde. Mit dem malischen Percussionisten Ladji Kanté Tamba spielte die Gruppe zunächst zu viert (als „The Umbrellas“, mitsamt Otts Schirmmacherlehrling) und dann noch im Rhythmus-Austausch zu zweit. Die Besucher, die sich in den winzigen Raum gequetscht hatten, schauten sich derweil neugierig in der Werkstatt um, die mit ihren alten Werkzeugen, den noch älteren Möbeln und den vielen Einzelteilen zur Schirmherstellung ein ganz eigenes Flair bot. Freilich musste man sich auch derart umsehen, weil man die Musiker vor lauter Publikum ohnehin nicht mehr sah. Herrlich zu beobachten war ein Vater mit seinem kleinen Jungen, der das fröhlich lachende Kind immer wieder zur Musik hoch in die Luft warf – bis die Mutter ihn mit einem strengen, missbilligenden Blick ausbremste, der der Mann gleich zum zweiten Kind degradierte. Eine Aufnahme des leichtfüßigen weltmusikalischen Spiels dieses diAlogs gibt es leider nicht, aber es bleibt zu hoffen, dass die Musik irgendwann noch festgehalten werden kann.

Nächste Station: Wieder die Szene Salzburg, wo jetzt die britische Band Hejira spielte, deren Sängerin Rahel Debebe-Dessalegne aus Äthiopien stammt. Der Soul-Pop der Gruppe hatte eine sehr intime und verträumte Qualität – tatsächlich regte Rahel das Publikum an einer Stelle dazu an, die Augen während eines Songs zu schließen und die Gedanken wandern zu lassen (weshalb ich auch eine sehr gute Ausrede habe, dass ich für zwei, drei Nummern eingenickt bin). Die Songs wurden gerade gegen Ende hin vielleicht ein wenig zu zaghaft, aber der warme Sound der Gruppe (Keyboarder Sam Beste spielte zuvor unter anderem mit Amy Winehouse) und die wohlige Stimme von Debebe-Dessalegne hinterließen dennoch einen sehr guten Eindruck. So habe ich mir auch von dieser Gruppe eine CD gekauft, die ich von der Sängerin und von Beste (mit dem ich etwas auf Deutsch plaudern konnte!) signieren ließ.

Die Szene blieb auch für unser nächstes Konzert der Schauplatz: Trompeter Theo Croker spielte mit seiner Band ein Akustik-Set, das sich gewaschen hatte. Im Grunde genommen war es das erste Jazz-Konzert dieses Jazzfestivals, das so weit über den Tellerrand hinausblickt, dass der Jazzbegriff hinfällig wird – „Jazz“ bedeutet hier eben keine musikalische Tradition, sondern eine Lust am klanglichen Abenteuer (und das deckt sich wiederum sehr mit meinem eigenen musikalischen Geschmack und auch Jazzverständnis). Aber Croker spielte Jazz: Pianist Michael King, Bassist Eric Wheeler und Michael Ode trieben ihn durch kraftvolle Post-Bop-Kompositionen, die nur manchmal Anleihen bei anderen Musikrichtungen nahmen (z.B. in den Hip-Hop-inspirierten Rhythmen, die Ode in einem Stück einsetzte). Spannend dabei vor allem Crokers Trompetenspiel: Bei aller Energie blieb immer etwas Sehnsüchtiges in seinem Klang, eine sehr emotionale Komponente, mit der er alle Stücke stets erdete.

Samstag war der letzte Konzerttag, der dafür auch üppig gefüllt war. In der Kollegienkirche sahen wir Mykia Jovan, eine Sängerin aus New Orleans, die als „Covergirl“ des Festivals auf allen Plakaten zu sehen war und somit dafür sorgte, dass die Kirche voller war als zu jedem Festtags-Gottesdienst. Jovan kam mit zwei Backgroundsängerinnen und einem Keyboarder und bot eine Gospel- und Soul-Mischung, die ganz von ihrer großartigen Stimme getragen wurde. Danach gaben sich im Markussaal die Lotus Eaters die Ehre: Ein Jazz-Quartett rund um Saxophonist Wanja Slavin, der sonst eher in Progressive-Richtungen blickt. Als „kontemplative Reise ins Innere“ wurde dieses Konzert angekündigt, aber das kann nur im Vergleich zu sonstigen musikalischen Abenteuern von Slavin (mit dem ich leider sonst nicht vertraut bin) gemeint sein: Er und seine Band gaben in ihrem Jazz-Set ordentlich Gas, der Rhythmus trieb nach vorne, die Saxophonsoli blieben keinesfalls brav und nach innen gerichtet. Kurzum: Ein intensives Vergnügen, das dem Gelegenheits-Jazzhörer dann wohl doch viel zu kantig ausgefallen sein dürfte.

Das Großkonzert des Abends fand dann wieder in der Szene statt: Der malische Sänger und Gitarrist Habib Koité spielte mit seiner Band Bamada vor einem krachvollen Saal, in dem sich die Gäste aneinanderquetschten wie sonst beim Springsteen-Gig. Die Stühle wurden entfernt, was vor allem für meine Mutter schwierig war – sie suchte sich nach kurzer Zeit eine kleine Treppenstufe am anderen Ende des Saals, von wo aus sie die Band zwar nicht sehen, aber zumindest weiter hören konnte. Koités beschwingter Afrika-Pop machte auch sehr gute Laune, obwohl der Funke nicht ganz übersprang – was nicht nur am zu vollen Saal, sondern auch an den ausufernden Ansagen von Koité gelegen haben könnte, der teils minutenlang zwischen den Liedern redete und dabei sich selber immer wieder ausbremste. Dennoch wäre sein Album eine schöne Ergänzung meiner Sammlung – aber angesichts der Menschenmassen habe ich davon abgesehen, nachsehen zu wollen, ob er denn welche verkauft.

Der Samstag endete mit einem faszinierenden Mitternachtskonzert, das wohl das Musikverständnis mancher Besucher schwer auf die Probe gestellt hat. Stian Westerhus und Ståle Storlokken spielten in der Kollegienkirche – die bis auf trüben Kerzenschein herabgedunkelt war, und die Musiker standen auch nicht vorne auf der Bühne, sondern waren unsichtbar für das Publikum oben bei der Orgel. Die kosmische Furcht, die die beiden da eine Stunde lang in den gigantischen Klangkörper der Kirche geschickt haben, ließ gleich innerhalb der ersten Minute die ersten zwei Zuhörer den Raum verlassen; innerhalb kürzester Zeit flüchteten schon die nächsten, und das ohnehin (natürlich auch angesichts der Uhrzeit) nicht sehr zahlreich anwesende Publikum war bis zum Schluss ordentlich geschrumpft. Die finsteren Orgelklänge und die wabernden Dark-Ambient-Flächen, die Westerhus und Storlokken zusammenbrauten, klangen, als wäre das ZEIT-Album von Tangerine Dream für einen Horrorfilm konzipiert worden; es war eine gigantisch große dunkle Magie, die man wohl nur faszinierend oder abstoßend finden konnte. Für mich war es das spannendste Konzert, das ich seit langem erleben konnte.

Die Konzerte waren vorbei, aber das Festival bot am Sonntag noch ein wenig Rahmenprogramm: Im Mozartkino, einem der ältesten Kinos der Welt, wurde der Dokumentarfilm BRÜDER KÜHN von Stephan Lamby aufgeführt – in Anwesenheit von Lamby und dem mittlerweile 90-jährigen Rolf Kühn selber. Das Porträt von Rolf und seinem jüngeren Bruder Joachim ist eine charmante Geschichte der Gegensätze – auf der einen Seite der höfliche, zurückhaltende Klarinettist Rolf, der sich sehr bedacht äußert, und auf der anderen der Pianist Joachim, der so redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Anstatt die Jazzprominenz antanzen zu lassen, um brav ihre Wertschätzung gegenüber den Kühns zu äußern, fokussiert sich der Film ganz auf die Brüder selber, lässt sie für sich sprechen und teilt das Vergnügen an ihren Gegensätzen – die sie nicht davon abhalten, eine innige brüderliche Beziehung zu führen. Nach dem Film erzählt Kühn noch, dass er im Film durchaus Neues über seinen Bruder erfahren habe, den er ja nun schon seit 75 Jahren kenne (und dem er, als Joachim 30 Minuten alt war, schon etwas auf der Klarinette vorgespielt hat), während Lamby, sonst auf Politdokus spezialisiert, über das Vertrauensverhältnis sprach, das dazu führte, dass sich die Kühns ihm so anvertraut haben.

Der Film war ein würdiger Abschluss einer aufregenden Konzertreihe, die jetzt schon Lust auf das nächste Jahr macht. Weil das Programm in den fünf Tagen so vollgepackt war, fielen natürlich einige Konzerte beiseite, die auch interessant gewesen wären: Den Münchner Blues-Gitarrist Jesper Munk hätte ich ebenso gern noch gesehen wie die US-Fusion-Band FORQ oder das Omniae Ensemble des portugiesischen Jazzdrummers Pedro Melo Alves – aber bei einem Festival gehört es ja auch dazu, sich selber Schwerpunkte zu setzen und einen individuellen Weg durch das Geschehen zu beschreiten, auf dem man eben nicht alles haben kann. Ich gratuliere dem Festivalteam zu einem gelungenen 20-jährigen Jubiläum und freue mich auf die nächsten 20 Jahre von“Jazz & the City“!

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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