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Ashlee Simpson: Bittersweet World (2008)

Generalüberholung auf Ashlees drittem Album: Kaum wiederzuerkennen.

Ihr erstes Album war eine echte Überraschung: Nicht nur, daß Jessica Simpsons jüngere Schwester keinen Dance-Pop gemacht hat, sondern druckvollen Mainstream-Rock – das Werk war auch noch richtig gut. Das zweite Album war dann schwerer und ernster, aber mit wenigen Ausnahmen ganz im Stil des Erstlings: also trotz mangelnder Frische immer noch freudvoller und hörbarer! als Jessicas gesammelter Output.

Auf BITTERSWEET WORLD, ihrem dritten Album, ist Ashlee kaum wiederzuerkennen. Das fängt schon auf dem Cover an: Wer ist das Mädchen darauf? Avril? Wer mag, kann spaßeshalber die drei bisherigen Albumcovers einmal nebeneinanderlegen: Ashlee schwarzhaarig und ganz jung auf dem Erstling, Ashlee blond und düster auf Nummer Zwei (der erste blonde Goth der Geschichte!), und ein bleichhäutiger, offensichtlich operierter Twentysomething-Zombie auf der Neuen. Irgendetwas läuft da schief.

Kaum wiederzuerkennen ist zunächst auch die Musik: Nachdem Ashlee schon im Titel der ersten beiden Werke (AUTOBIOGRAPHY und I AM ME) ihre Musik an ein starkes Selbstverständnis geknüpft hat, ist hier Schluß mit der Abgrenzung von Jessica. BITTERSWEET WORLD ist über weite Strecken der pure Dance-Pop, mit zackigen Beats, schillernden Keyboards, und nur einem Touch 80’s-Retro-Pop-Rock oben drüber gezogen. Freilich übt sie sich auch diesmal in kraftvoller Selbstbehauptung: „I am who I am / And I can’t be no one else“, singt sie schon im ersten Track. Aber offenbar kann sie das ja doch.

Aber auch nach der Generalüberholung bleibt die neue Ashlee ein unterhaltsamer Pop-Lieferant: Die Industriemechanismen mögen noch schamloser als sonst sichtbar sein, die Songs noch mehr Bubblegum darstellen als auf dem Vorgänger – aber Ashlee bleibt nach wie vor, siehe oben, freudvoller und hörbarer als ihre Schwester, und – im Pop-Kontext betrachtet – ganz einfach besser als viele Kolleginnen. Die erste Single („Outta My Head (Ay Ya Ya)“ ist eine völlig beknackte und gerade deswegen wundervoll funktionierende Hüpfburg, und gleich danach werden in „Boys“ die Achtziger so dick aufgetragen, daß man Cyndi Lauper als Duettpartner erwarten könnte (aber die hat sich für Kelly Osbourne entschieden).

Die besten Songs kommen dann in der zweiten Hälfte: „Bittersweet World“ ist ein feiner Elektro-Showtune, während in „Hot Stuff“ Beats und Rhythmusgitarre mit perfektem Funk tuckern, über dem sich eine Melodielinie auf- und abschlängelt. Danach gleich „Murder“, und das rockt tatsächlich. Produziert wurde der Großteil der Songs abwechselnd von Timbaland und von Chad Hugo (eine Hälfte der Neptunes), und beide sehen einfach zu, daß sich dauernd etwas bewegt. Nicht jeder Song funktioniert gleich gut – „Little Miss Obsessive“, mit Gastauftritt von Tom Higginson von den, jaja, Plain White T’s, ist recht aufgeblasen, und „Rule Breaker“ ist eher bemüht rebellisch: „I got a boyfriend / He likes to fight a lot / We got a lot in common / And he thinks I rock / We like to break rules / Both got tattoos / We tend to smash things“, shoutet Ashlee da ins Mikro, und trotzdem wird aus der Göre kein Marlon Brando.

Trotz wohlwollender Worte ist es aber nun leider doch so, daß Ashlee im Rock-Gewand eine viel bessere Figur macht als im Dance-Gewerbe, wo ihre flache Stimme zwischen den dicken Beats recht dünn wirkt – zumal das Mädel (beziehungsweise ihr Stall aus Songwritern und Produzenten) mit AUTOBIOGRAPHY ein viel stimmigeres Kleid gestrickt hatte, das man ihr auch abgekauft hat und das im Vergleich zu anderen Pop-Alben durchaus mehr Anspruch hatte.

Sei’s drum: Pop ist Fake, Pop bewegt sich, Pop soll unterhalten. BITTERSWEET WORLD ist ein Quickie, aber wenigstens ein spaßiger.

Dieser Text erschien zuerst am 25.6.2008 bei Fritz!/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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