DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN: Gefühlte Bedeutungen und das Trauma des Krieges

Film / Retrospektive / 3. Juli 2014

This is this. This ain’t something else.“ Michael hält eine Gewehrpatrone hoch und zeigt sie seinem Freund Stan, der mit ihm und einigen anderen Freunden in die Berge auf die Jagd gefahren ist. Die Burschen albern herum, aber Michael ist wütend, daß Stan die Jagd nicht ernst nimmt. „This is this. From now on, you’re on your own“, sagt er. Was genau meint er?

Möglich, daß er hauptsächlich auf die Ernsthaftigkeit des Jagens anspielt: Eine Kugel entscheidet über Leben und Tod. Aber er könnte auch etwas anderes meinen. Zuvor hat Michael schon über seine Überzeugung geredet, daß nur ein einzelner Schuß zählt. „One shot is what it’s all about. A deer’s gotta be taken with one shot“, erklärt er. Es ist wie der Ehrenkodex eines Jägers und im weiteren Sinne eine Lebensphilosophie: Man konzentriert sich auf den einen Moment, der zählt. Eine weitere Chance kommt möglicherweise nicht. Vielleicht meint er das, wenn er die Patrone hochhält und sagt, „This is this“. Wir können nur mutmaßen.

„This is this. This ain’t something else.“

 

Michael Cimino hat ein ausgeprägtes Talent für solche vagen Momente, die ihre Bedeutung nur andeuten, die höchst ambivalent ausgelegt werden können, und die eher gefühlsmäßig auf etwas zu stoßen scheinen als konkret faßbar. Das war schon in seinem Erstlingswerk DEN LETZEN BEISSEN DIE HUNDE spürbar, wo er zwischen den Bestandteilen eines Buddy-Roadmovies und eines Gangsterkrimis die Ahnung fand, daß etwas im Land schiefläuft. In seinem zweiten Film, dem vielfach ausgezeichneten und kontrovers diskutierten Kriegsdrama DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN – im Original: THE DEER HUNTER – versucht er in zahlreichen solchen Momenten, den Finger auf die Wunde zu legen, die der Vietnamkrieg in Amerika gerissen hat.

Der Film gliedert sich mit seiner üppigen Lauflänge von 183 Minuten in drei Segmente: Im ersten lernen wir unsere Protagonisten kennen, allen voran Michael und seine Freunde Nick und Steven, die als Stahlarbeiter in einer Stadt in Pennsylvania leben und sich für den Einsatz in Vietnam gemeldet haben. Vor der Abreise heiratet Steven seine Freundin Angela, während Michael, Nick und einige andere Freunde noch einmal in die Berge fahren, um Wild zu jagen. Im zweiten Teil sind wir mit unseren drei Protagonisten in Vietnam, wo sie in Gefangenschaft des Vietcong fallen und dort gezwungen werden, russisches Roulette zu spielen. Der dritte Part schließlich beschäftigt sich mit den Schicksalen der Freunde nach ihrem Kriegserlebnis.

Michael (Robert De Niro) auf der Jagd.

 

Da fällt zunächst auf, wie wenig Platz Vietnam in der Struktur eigentlich einnimmt: Der erste Teil dauert über eine Stunde, die Vietnam-Episode nur 42 Minuten – wobei davon auch nur 28 Minuten dem Kriegsgeschehen selber gewidmet sind, also nur knapp ein Sechstel des ganzen Films. Dieses Segment ist fast ganz entkontextualisiert: Die Sequenz beginnt schon in einem Kampfgeschehen, dessen Hintergründe wir nicht kennen, und läßt die drei Protagonisten fast sofort in Gefangenschaft geraten. Abgesehen von der kurzen Kampfszene sehen wir vom Dschungelkrieg nur den kleinen Vietcongposten, wo die amerikanischen Gefangenen mißhandelt werden.

Schon das zeitliche Verhältnis zeigt, daß es Cimino weniger um die Darstellung des Krieges geht oder die Differenzierung der Kriegsgräuel, sondern nur darum, was der Krieg mit den Menschen macht. Er wurde dafür vielfach angegriffen und sogar als Faschist bezeichnet: Weil die Vietnamesen hier anonyme Folterknechte sind und nur vom Leid der US-Soldaten berichtet wird, hieß es, er würde die Vietnamesen mit rechtem Blick als Untermenschen zeichnen, die Amerikaner dagegen als Opfer. Aber Cimino stellt gar keinen Anspruch auf einen gesamtheitlichen Blick auf die Kriegszusammenhänge; er erzählt von Individuen, die durch das Geschehnis gezeichnet werden – und die erleben ihre Gefangenschaft nun einmal so, ganz egal, wer politisch woran schuld war. Gerade weil er den Soldaten keine Mission gibt, kein Ziel jenseits des Überlebens, stellt er die Sinnfrage des Krieges deutlich in den Raum.

Michael (Robert De Niro) wird zusammen mit den anderen Gefangenen zum russischen Roulette gezwungen.

 

Vorgeworfen wurde Cimino auch, daß das Spiel des russischen Roulettes gar nicht faktisch belegt sei und der Vietcong keine Gefangenen zu diesem Spiel gezwungen hätte. Aber da sind wir wieder bei den Annäherungen, die eher intuitiv als gegenständlich funktionieren: Das Spiel ist ein Sinnbild für die Erfahrung des Krieges. Die Protagonisten müssen sich einen Revolver an die Schläfe halten und abdrücken – vielleicht haben sie Glück und überleben, weil keine Kugel in der Trommel ist, aber vielleicht haben sie auch Pech und sterben. Was ist das Kriegserleben sonst, als ein Glücksspiel mit dem Tod? Das ganze Drumherum – die Strategien, die Missionen, die Ziele, die Kampfausbildung – ändert nichts daran, daß die einzelne Person letzten Endes nicht beeinflussen kann, ob sie überleben wird oder nicht.

Das wirft natürlich ein ganz anderes Bild auf das Motiv der Jagd und den Grundsatz des „one shot“. Anfangs hat die Jagd für Michael Bedeutung, die weite Natur der Berge ist wie seine Kathedrale – nicht umsonst ist in diesen Szenen ein Chor auf dem Soundtrack zu hören – und ein einzelner Schuß hat eine Bedeutung. Nach dem Krieg hat sich etwas geändert, und er kann den Hirsch, den er so klar im Visier hat, nicht mehr töten – stattdessen schießt er mehrfach in die Luft. „This is this. This ain’t something else“: Ja, ein einzelner Schuß zählt etwas, aber vielleicht nicht das, was Michael dachte. Und vielleicht definiert sich der Mensch nicht nur durch den einen Moment.

Der desillusionierte Soldat als böses Omen für die Freunde Steven (Jon Savage, links),
Michael (Robert DeNiro, 2.v.l.) und Nick (Christopher Walken, rechts).

 

Gerade im ersten Teil zeigt Ciminos Film eher europäische Sensibilitäten, die auch viele Werke von New-Hollywood-Kollegen wie Altman, Rafelson, Bogdanovich und Coppola auszeichneten: In oftmals offener Bildgestaltung folgen wir dem Leben der Protagonisten, ohne daß der Zuseher zu einem Fokus auf bestimmte Gegebenheiten gedrängt wird. Geradezu unendliche Zeit nimmt sich Cimino für die Hochzeit von Steven und Angela, bei der die Trauungszeremonie stattfindet, getanzt wird, gelacht, getrunken, gefeiert – in klassischer Hollywood-Dramaturgie könnte die Sequenz auf ein Minimum heruntergeschnitten werden, aber Cimino taucht in sie ein und läßt uns teilhaben, als wären wir selber Gäste auf dieser Feier. Wieder liegt der Punkt nicht in der konkreten Substanz, sondern im Gefühl: Je mehr wir teilhaben am normalen Leben unserer Protagonisten, desto mehr spüren wir den einschneidenden Effekt des Krieges.

Während der Feier tauchen auch ominöse Vorahnungen auf. Teil der Zeremonie ist es, daß Braut und Bräutigam aus einem Becher mit zwei zusammenhängenden Gefäßen gleichzeitig Wein trinken – wenn sie dabei keinen Tropfen verschütten, bedeutet das Glück. Zwei kleine Tropfen fallen auf Angelas Brautkleid, was keiner merkt, aber wir ahnen ihre Bedeutung. Außerdem taucht ein Soldat in Uniform auf der Feier auf, der sich aber zurückgezogen im Hintergrund hält und alleine trinkt. Michael und die anderen sprechen ihn an, wollen Heldengeschichten aus dem Krieg hören – aber der Soldat reagiert kaum. (Warum geht ein Mann, der in Ruhe gelassen werden will, auf eine Hochzeitsfeier? Ganz einfach: weil Menschen nicht immer logisch handeln.) Er fungiert dabei als Schatten des späteren Michael, der nach seinem Kriegserlebnis ebenfalls die Uniform anbehält, als würde er den Krieg mit nach Hause tragen, und meist teilnahmslos seine Freunde beobachtet, wie sie feiern und ihrem Leben nachgehen. „This is this. From now on, you’re on your own.“

Die Freunde singen „God Bless America“.

 

Auch der Schluß ist so ein Moment, dessen Bedeutung nur sehr vage bleibt. Die kleine Gemeinschaft an Freunden sitzt nach der Beerdigung einer der Protagonisten, die nicht aus dem Krieg heimgekommen sind, beisammen – ein trauriges Echo der anfänglichen Feierlichkeiten. Einer von ihnen stimmt die patriotische Hymne „God Bless America“ an, in die die anderen dann einfallen, bevor sie noch ihr Glas auf den gefallenen Freund heben. Natürlich war die Szene Futter für alle, die Cimino rechte Tendenzen vorwarfen: Nach all dem Unheil wird hier die heilige Nation heraufbeschworen. Aber wieder stellt sich die Frage, welche Wichtigkeit das Lied für die Figuren hat – ist es ein Moment des Zusammenhalts? Ist es ein Ausdruck der Desillusion, weil die Worte nichts mehr bedeuten? „This is this. It ain’t something else“ – aber man kann sich gar nicht mehr sicher sein, ob die Dinge so einfach sind, wie sie scheinen.

Wie eigentlich alle Cimino-Filme bietet auch DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN Reibungsfläche und stellt bei aller Ambition keinesfalls einen perfekten Film dar (wie immer ein solcher aussehen könnte). Wobei für mich die Probleme nicht in der politischen Dimension liegen und auch nicht in der Sperrigkeit der Erzählung, die viele Zuseher – vor allem im ersten Drittel – als harte Geduldsprobe empfinden: Ich stoße mich viel eher an der Zeichnung der Freunde, die allesamt reichlich infantile Hohlköpfe sind und deren Späße eigentlich stets derb oder nervtötend sind. Ein Film braucht nicht zwangsläufig sympathische Figuren, nur interessante – aber hier wird über weite Strecken ein Freundschaftsbild gezeichnet, das hauptsächlich daraus besteht, daß sich die Männer wie primitive Proleten aufführen. Mag sein, daß unter Stahlarbeitern ein deftiger Umgangston herrscht – aber so dumm, wie sich hier alle gegenseitig anreden, gewinnt man oft genug den Eindruck, daß diese Freundschaft aus reiner Behauptung besteht, zumal sie in den Beziehungen der Figuren zueinander kaum Nuancen aufweist.

Die Freunde auf ihrem letzten Jagdtrip vor der Abreise nach Vietnam.

 

Ungeachtet dessen ist THE DEER HUNTER ein lohnenswertes, reichhaltiges Werk, das bei wiederholtem Ansehen auch immer wieder neue Facetten offenbart. Der Film zeigt, wie die Auswirkungen des Krieges gar nicht auf einzelne Geschehnisse und Facetten reduziert werden können, sondern daß der Krieg gewissermaßen einer ganzen Generation ein Trauma gibt, das ins Private reicht und schwer in Worte zu packen ist. Und genau diesen Bereichen verschafft Cimino Ausdruck, indem er ihnen die Ambivalenzen läßt und keine Behauptungen über Klarheit in den Raum stellt. Die Schlüsse muß jeder selber ziehen. „This is this. This ain’t something else.“ Von wegen: Es ist alles so viel mehr.

 

 

Die durch die Hölle gehen (USA 1978)
Originaltitel: The Deer Hunter
Regie: Michael Cimino
Buch: Michael Cimino, Deric Washburn, Louis Garfinkle, Quinn K. Redeker
Kamera: Vilmos Zsigmond
Musik: Stanley Myers
Darsteller: Robert De Niro, Christopher Walken, John Savage, Meryl Streep, John Cazale, George Dzundza, Chuck Aspegren, Rutanya Alda





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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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