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Kontrolle und Wahnsinn in Stanley Kubricks SHINING

Halb als Scherz stelle ich manchmal zur Debatte, daß es in Stanley Kubricks Horrorklassiker THE SHINING eigentlich um eine Schreibblockade geht. Es ist nicht völlig abwegig: In der psychologischen Terrorstory um einen Mann, der zusammen mit seiner Frau und seinem kleinen Jungen über die Wintermonate ein verlassenes, eingeschneites Hotel bis zur Wiedereröffnung betreut und dabei dem Wahnsinn anheim fällt, brennen sich Dutzende von Szenen und Bildern in das Gedächtnis des Zusehers – darunter auch der absurde, subtil grauenhafte Moment, in dem die Ehefrau das Manuskript durchblättert und dabei feststellen muß, daß der Roman, an dem der Mann schon seit Wochen arbeitet, über hunderte von Seiten hinweg aus der zigfachen Wiederholung eines einziges Satzes besteht: „All work and no play makes Jack a dull boy“ (in der deutschen Fassung: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“). Es sickert einem erst nach ein paar Augenblicken, wie es um den Geisteszustand dieses Mannes beschaffen sein muß – von dessen Kreativität wir schon geahnt haben, daß sie ähnlich leblos und leer ist wie die gigantische Halle, in der er täglich tippt.

Mit der Schreibblockaden-Theorie ist THE SHINING natürlich ein wenig gegen den Strich gelesen. Wobei: Eigentlich erlaubt es der Film, in vielerlei Hinsicht gedeutet zu werden – künstlerisch, allegorisch, psychologisch, offensichtlich. Was Kubrick aus der Buchvorlage von Stephen King gemacht hat – die ich nicht kenne, aber die offenbar so frei umgesetzt wurde, daß der enttäuschte Autor viel später eine buchstabengetreuere TV-Adaption produzieren ließ – ist ein Horrorfilm, dessen niemals erklärte Ambivalenzen zusammen mit seiner perfektionistischen Umsetzung einen unendlichen Deutungsspielraum geben. THE SHINING kann alles und nichts sein, und bei jedem Ansehen können sich neue Bedeutungen offenbaren.

Daß es um einen Absturz in den Wahnsinn geht – wie so oft bei Kubrick – scheint außer Frage zu stehen: Immerhin nimmt Jack Torrence, unser Möchtegernschriftsteller, die einsame Position als Hauswart im Overlook Hotel an, obwohl er erfährt, daß einer seiner Vorgänger in der Isolation den Verstand verlor und seine Familie mit der Axt tötete. Nicht ganz so eindeutig ist die Frage, wo Jacks eigener Wahnsinn beginnt – ab dem Zeitpunkt, an dem er die Geister des Hotels herumlaufen sieht und eine joviale Unterhaltung mit dem nicht existenten Barkeeper Lloyd führt? Oder schon ab dem Punkt, an dem er mit leerem Blick über seinem Manuskript brütet und seine Frau anschreit, daß sie ihn in Ruhe lassen soll? Nicht minder interessant ist die Frage nach der Ursache der Geschehnisse: Ist es das Hotel selbst, das Jack irgendwann selbst zur Axt greifen und seine Familie bedrohen läßt? Spukt es dort? Oder kann Jack doch nicht so mühelos mit der Einsamkeit umgehen, wie er anfangs behauptet, und alle Übernatürlichkeiten sind nur Zeichen seines sich zersetzenden Verstandes?

Es ist – im Rahmen eines Spukhausfilms natürlich – plausibel, daß es der Ort selber ist, der die Rationalität vor die Hunde gehen läßt. Immerhin hat Jacks offenkundig übersinnlich begabter Sohn Danny im Hotel Visionen von Blutbädern und sieht die Geister der beiden Töchter, die Jacks schon erwähnter Vorgänger umgebracht hat. Bei der Übergabe erklärt der Koch des Hotels dem kleinen Jungen, daß Ereignisse Spuren an Orten hinterlassen, und warnt ihn davor, in Zimmer 237 zu gehen – wo Danny später, weil die Neugier natürlich größer ist als die Angst, offenbar angegriffen wird (wir sehen nicht, was passiert; wir sehen nur danach den verstörten Jungen, der Flecken am Hals hat). Auch Wendy, Jacks Frau, begegnet im Finale des Films den Geistern des Hotels.

Ich behaupte aber, daß es Jack ist, der den Wahnsinn mit sich bringt. „You’ve always been the caretaker“, sagt ihm der Geist des früheren Hausmeisters Grady, und da kann man „caretaker“ auch in dem Sinne verstehen, daß er derjenige ist, der sich um die Dinge kümmert. Wenn man das Overlook Hotel als allegorischen Ort versteht, also als labyrinthische Falle, in der sich der wahre Mensch offenbart, dann macht es auch Sinn, daß Jack auf einem Bild aus dem Jahr 1921 zu sehen ist: Dieser abgründige Irrgarten der Seele war schon immer Jacks Zuhause. Mitunter wurde an SHINING kritisiert, daß Nicholson schon von Beginn an zu irre wirkt, daß er schon im „Normalzustand“ nicht ganz vertrauenswürdig zu sein scheint – aber das könnte genau die Tatsache widerspiegeln, daß er hier nicht wahnsinnig wird, sondern schon vor dem Trip ins Hotel gefährliche Tendenzen hatte.

Immerhin ist das Thema der häuslichen Gewalt sorgsam in den gesamten Film eingewoben. Als Wendy den nach seiner Erforschung von Zimmer 237 verstört und mißhandelt wirkenden Danny vorfindet, fällt ihr Verdacht sofort auf Jack. Der offenbart uns in einem Gespräch mit dem imaginären Barkeeper, daß er schon einmal gegenüber dem Jungen handgreiflich wurde – was er natürlich als „Unfall“ abtut. Wenn man diese familiäre Dynamik einmal im Film aufgespürt hat, spürt man sie auch in anderen Momenten: Zum Beispiel in der Szene, in der Danny mit seinem Vater spricht und jede Frage nur zögerlich hervorbringt – bis er dann versichert bekommen will, daß Jack ihm und der Mutter niemals wehtun würde. Auffällig ist auch, wie Mutter und Kind entspannt miteinander spielen und reden, während die Beziehung zwischen Vater und Sohn sehr viel distanzierter und kälter gehalten ist.

Vielleicht ist der ohnehin als durchaus cholerisch gezeichnete Jack also nicht der ideale Familienvater, den der anfängliche Eindruck suggeriert. Wenn Danny befürchten muß, daß sein Vater brutal wird – wie es ja offenbar schon mindestens einmal geschehen ist – dann macht es auch Sinn, daß er Visionen von Blutfontänen und toten Kindern hat, ebenso wie es Sinn macht, daß er einen imaginären Freund erfindet, bei dem er eine gewisse Zuflucht findet. Falls Jack schwerwiegende psychische Probleme hat, könnte sein Sohn ja auch an solchen leiden – was als übersinnliche Begabung gezeigt wird, könnte also die Manifestation einer Störung sein. Auch Wendys oft hysterisches und selbst in unproblematischen Situationen sehr unterwürfiges Verhalten paßt in das Bild der Familie, die den Zorn des Patriarchen fürchten muß.

Bezeichnenderweise findet sich Jack immer wieder in Kontrollphantasien wieder. Die deutlichste davon ist der Moment, in dem der Geist des ehemaligen Hausverwalters ihm nahelegt, seine Familie für ihren Ungehorsam zu „korrigieren“ – sprich: zu ermorden – als würde er damit die in ihm aufsteigende Unruhe wieder in Ordnung bringen können. In den Gesprächen mit dem imaginären Hotelpersonal läßt sich Jack immer wieder subtil seine erhöhte Position bestätigen – beispielsweise, wenn er seine Drinks nicht zahlen muß, oder wenn der Kellner, der ihm und sich selbst Saft über die Kleidung schüttet, sich nur um Jacks Flecken kümmert: „You’re the important one“. Auch Jacks Buchprojekt ist ein Versuch, Kontrolle über die Unordnung zu gewinnen – sein hundertfach wiederholter Satz ist wie die zwanghafte Bemühung, die Welt überschaubar zu halten. Selbst der Moment, in dem Jack auf ein Modell des in Hotelnähe gelegenen Irrgartens blickt und wir per Trickeffekt darin Wendy und Danny herumlaufen sehen, suggeriert seinen Wunsch, das Geschehen zu beherrschen.

Dieses immense Verlangen nach Kontrolle spiegelt sich in der Inszenierung des Films wider: Jedes Bild strahlt eine kontrollierte Strenge aus, die Macht über die Wirklichkeit zu suchen scheint. Die Einstellungen sind unnatürlich symmetrisch, die Kamera gleitet in exakt geraden Linien die endlosen Korridore entlang oder fährt im perfekten rechten Winkel zum Geschehen. Die Bildkompositionen sind sauber und schnörkellos, und selbst die wiederkehrenden labyrinthischen Motive – sei es der tatsächliche Irrgarten, die nie endende Abfolge von sich verzweigenden Hotelfluren oder das Muster auf den Teppichen – sind so arrangiert, als könnte die Formgenauigkeit ihrer Zufälligkeit Sinn und Ordnung geben.

Zu dieser Kontrollwut paßt natürlich auch der schon legendäre Perfektionismus Kubricks, der ihn dazu trieb, manche Szenen mehr als hundert Mal zu drehen und dabei die weibliche Hauptdarstellerin Shelley Duvall über Monate hinweg immer wieder weit über den Punkt der absoluten Verausgabung zu drängen. Wie VERTIGO einst einen kleinen Einblick in Alfred Hitchcocks Obsessionen erlaubte, gewährt einem vielleicht auch SHINING eine leise Ahnung davon, wie Kubricks notorische Detailverliebtheit ihm Herrschaft über das von ihm geschaffene Universum gibt. Und auch wenn Kubricks kreative Manie ein weitaus produktiveres Resultat hervorbringt als der isolierte Wahn seiner Hauptfigur, kann sich der Filmemacher vielleicht doch zu einem gewissen Grad in einem Menschen wiederfinden, der tausendfach denselben Satz niederschreibt.

Aber treiben wir das Psychogramm des Künstlers mal nicht zu weit: SHINING wäre auch ohne die übliche Mythologisierung seines Machers ein durch und durch vieldeutiger und rätselhafter Film, der trotz und auch gerade wegen seiner penibelst gestalteter Oberfläche einen erschreckenden Blick in einen menschlichen Abgrund gewährt – sei er nun übernatürlich oder psychologisch bedingt. Wie ein David-Lynch-Film ist Kubricks SHINING ein Puzzle, das auf viele Weisen zusammengesetzt werden kann; er ist eine Konfrontation mit tiefverwurzelten Ängsten, die auch auf assoziativer, emotionaler Ebene funktioniert.

Und gerade weil der Film Fragen aufwirft, die er nie beantwortet, funktioniert er auf gewisse Art auch als Spiegelbild zum wirklichen Leben: Es kann hier nur gemutmaßt werden, ab welchem Punkt alles schiefgeht. Bei den meisten Horrorfilmen sind eindeutige Handlungen und Regelverstöße erkennbar, die dann schlechte Konsequenzen über die Figuren und die Welt hereinbrechen lassen – aber SHINING nagt selbst an dem Gedanken, daß alles gut geblieben wäre, wenn Jack den Job im Hotel nie angenommen hätte. Anders gesagt: Das Overlook Hotel wartet überall auf uns. Es ist der Punkt im Leben, an dem die Geister der Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmen.

Mehr über SHINING auf Wilsons Dachboden:
ROOM 237: Wir sehen, was wir sehen wollen
Lichtspielplatz #22 – Im Labyrinth von THE SHINING (Podcast)



Shining (England/USA 1980)
Originaltitel: The Shining
Regie: Stanley Kubrick
Buch: Stanley Kubrick, Diane Johnson, nach dem Roman von Stephen King
Kamera: John Alcott
Musik: Wendy Carlos, Rachel Elkind
Darsteller: Jack Nicholson, Shelley Duvall, Danny Lloyd, Scatman Crothers, Philip Stone, Joe Turkel

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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