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Evanescence: The Open Door (2006)

Macht hoch die Tür!

Nach drei Jahren liefern Evanescence ihr Nachfolgealbum THE OPEN DOOR ab. Können Amy Lee und ihre Gefährten den Erfolg des Erstlings wiederholen, oder schwinden sie dahin?

Eine gothisch-düstere Villa. Ein vampirisch wirkender Mann auf einem Stuhl, dessen Lehne Teufelshörner zieren. Während Amy Lee im Laub knieend die Wölfe streichelt, sehen wir aus der Vogelperspektive, wie ihr weites rotes Kleid sie wie eine Blutlache umgibt. Allein die beladenen Bilder des neuen, überaus zitierfreudigen Videos zu entschlüsseln könnte in eine umfassenden Seminararbeit münden – wenn wir nicht schon wüßten, daß es sich nur um eine perfekte Show handelt.

Ähnlich wie Linkin Park verstehen es Evanescence, die einzelnen Elemente eines Genres – mit all seinen ikonischen Bildern, den Assoziationen und der klanglichen Quintessenz – zu nehmen und daraus perfekten Pop zu schmieden. Als 2003 das Album FALLEN erschien, schafften Evanescence, was all den Gothic-Metal-Gruppen zuvor nie gelungen war: Sie brachen aus der Nische heraus und wurden zu einem weltweit kommerziell erfolgreichen Phänomen. Aussehen und Klang mag sie zwar mit vergleichbaren Bands verbinden – auch Nightwish, Within Temptation, Lacuna Coil oder The Sins Of Thy Beloved schwelgen mit sirenenhaftem Frauengesang im romantisch-tragischen Weltschmerz – aber im Grunde genommen haben Evanescence nichts mit all diesen Gruppen zu tun, weil ihre Sensibilitäten ganz woanders liegen: Evanescence schreiben Popsongs und hüllen diese in ein Gewand, das quasi als Genrezitat funktioniert.

Die irrwitzige Popularität des Vorgängeralbums – FALLEN verkaufte sich weltweit über 14 Millionen Mal – und der darauffolgende Tumult innerhalb der Band – Gitarrist und Co-Songwriter Ben Moody verließ die Gruppe mitten in ihrer Welttournee, vielleicht im Zuge seiner manisch-depressiven Schübe – ließen Zweifel aufkommen, ob überhaupt ein neues Album kommen könnte, und ob Sängerin Amy Lee sich auch ohne ihre „andere Hälfte“ behaupten würde. Für Moody sprang der ehemalige Cold-Gitarrist Terry Balsamo als permanenter Ersatz ein, aber in der öffentlichen Wahrnehmung ist die Person Lee synonym mit dem Namen „Evanescence“.

THE OPEN DOOR bedient – drei Jahre nach FALLEN – natürlich die ganze Palette des Genres: Düstere Romantik, großes Streichorchester, dramatische Chöre, harte Gitarren und dazwischen immer Lees sehnsüchtige Sirenenstimme. Es geht um die großen Themen – Dunkelheit, Verlust, Tod, Schmerz – und so wird in jedem der perfekt produzierten Songs alles auf das Bombastischste hocharrangiert. Keiner der Songs ist schlecht, aber nur wenige sind wirklich bemerkenswert: „Cloud Nine“ mit seinen Geisterstimmen und atmosphärischen Klängen, „Lose Control“ mit seiner Soft-Hard-Dynamik. „Lacrymosa“ ist mit seinem Chor beinahe lachhaft pompös, aber Lees Ernsthaftigkeit und ihr unbedingter Wille, sich zu beweisen, halten den Song zusammen.

Das Album ist wesentlich homogener als der Vorgänger – kein Gastrapper heischt um Aufmerksamkeit, die Brüche zwischen den Tori-ismen am Klavier und dem großen Pathos sind verschwunden. Das Problem mit dem Album liegt in der Natur der Sache – der theatralisch aufgeladene Bombast der Musik erlaubt wenig Raum für Subtilität oder gar ein Vergessen der permanenten, unbedingten Ernsthaftigkeit, die die Musik untermauert. Auf Dauer erschlägt einen der Pomp, und nicht erst nach 13 Songs ist das Thema Trennungsschmerz hinreichend ausgelotet.

Das ändert nichts daran, daß sich Evanescence mit THE OPEN DOOR behaupten können: Die immer problematische Geburt des Nachfolgealbums ist überstanden, der Kurs ist klar. Und mit Singles wie dem über-lebensgroßen Break-up-Song „Call Me When You’re Sober“ – Gift in Richtung des Zweit-Liga-Rockstars Shaun Morgan, Frontmann von Seether und Jetzt-nicht-mehr-Lebensgefährte von Lee – werden Evanescence noch eine ganze Zeitlang bei uns bleiben. Die Entscheidungen übernimmt ab sofort ohnehin Amy Lee: „I’ve made up your mind.“

Dieser Text erschien zuerst am 14.10.2006 bei Fritz!/Salzburger Nachrichten.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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