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PRISONERS: Von Tätern und Opfern

In einer kargen Schneelandschaft bahnt sich ein Reh den Weg durch die Bäume. Ein Gewehr ist am Bildrand zu sehen, ein Gebet wird gemurmelt, dann streckt ein Schuß das Tier nieder. In DIE DURCH DIE HÖLLE GEHEN war die Jagd noch ein erhabenes Ritual, eine Art Selbstfindung, die dann die Bedeutung verliert, als die Protagonisten auf die Schrecken des Krieges treffen. In PRISONERS ist es eine trostlose Vorbereitung auf Schlimmeres: Überlebensfanatiker Keller Dover (Hugh Jackman) bringt seinem Sohn bei, wie man vorbereitet sein muß, wenn die Zivilisation den Bach heruntergeht.

Er selber wird Teil dieses Niedergangs sein. Als zu Thanksgiving seine kleine Tochter und die des benachbarten Freundes Franklin (Terrence Blanchard) entführt werden, faßt die Polizei einen geistig zurückgebliebenen Mann (Paul Dano), der an diesem Tag mit seinem Wohnmobil in der Gegend gesichtet wurde. Beweise für einen Zusammenhang gibt es nicht, weshalb die Polizei ihn laufen läßt – aber Keller ist überzeugt, daß dieser Mann der Täter ist, weshalb er ihn entführt und mit Gewalt ein Geständnis aus ihm herausgepressen will.

Two little girls have got to be worth whatever little rule you gotta break to keep that asshole in custody“, erklärt Keller dem Polizisten Loki (Jake Gyllenhaal) schon zu Beginn der Ermittlungen: Wer auf der richtigen Seite steht, kann im Notfall alle Regeln brechen. Nach und nach zieht Keller auch sein Umfeld in den verzweifelten Kreuzzug gegen das Böse: Franklin zweifelt an der Richtigkeit von Kellers Plan, läßt sich von dessen aufgebrachter und ohnmächtiger Wut mitreißen. Franklins Frau Nancy deckt lieber den Mantel des Schweigens darüber: Sie will nicht bei der Folter mitmachen, aber erklärt ihrem Mann, daß sie Keller alles Nötige tun lassen werden. Kellers eigene Frau Grace betäubt ihren Kummer mit Tabletten und fragt sich kein einziges Mal, wohin ihr Mann jede Nacht verschwindet.

„He stopped being a person when he took our daughters“, rechtfertigt Keller seine drastischen Maßnahmen. Die politischen Parallelen dieser ganz und gar persönlichen Tragödie sind klar: Auch in unserer jüngsten Geschichte werden Grundrechte immer wieder im Namen der gerechten Sache eingeschränkt. „[The American people] did not want Guantanamo detainees brought to the United States and tried in civilian courts with the same constitutional rights as common criminals“, schreibt George W. Bush in seinen Memoiren DECISION POINTS, während er seine Verhörmethoden rechtfertigt. Beide erklären, wie sie sich zu ihren Entscheidungen gezwungen fühlen: „You’re making me do this“, sagt Keller zu seinem Gefangenen, während er ihn mit Kalt- und Heißwasser foltert. „The choice between war and peace belonged to Saddam Hussein alone“, schreibt Bush über seinen Konflikt mit dem irakischen Diktator.

Es sind unfreundliche Bilder, die Villeneuve und sein Kameramann
Roger Deakins verwenden: statische Aufnahmen, farblos und uneinladend,
die Scheiben vom Regen und Schnee manchmal ganz undurchsichtig. Der Film
taucht tief in den Schmerz und die Ohnmacht der Eltern ein, deren
Kinder verschwunden sind, und die meiste Zeit murmeln die Protagonisten
ihre Sätze, als hätte sie die Hoffnungslosigkeit dieser Welt schon vor
langer Zeit ermüdet.

Aber Regisseur Denis Villeneuve beschränkt sich nicht darauf, zu zeigen, wie ein Mann im Namen des notwendigen Übels die Menschlichkeit aller Beteiligten, allen voran seine eigene, über Bord wirft. Die Welt von PRISONERS ist eine kalte Hölle, in der das Schlechte wie ein Virus um sich greift: Da hat ein Priester einen Mann umgebracht, der ihm in der Beichte von Kindesmorden erzählt hat, und anderswo stellt sich heraus, daß ein Täter früher einst Opfer war, das nun den Mustern seines früheren Peinigers folgt. Die erst ganz nebensächlichen Handlungsstränge werden sich zum Schluß zum Porträt einer Welt zusammenfügen, in der wie in einer Epidemie ein menschlicher Abgrund den nächsten bedingt, ohne Anfang und Ende, wie in dem kreisförmigen Labyrinth, das immer wieder als Symbol auftaucht.

Ein Vater bringt seinem Sohn das Jagen bei: Im Nachhinein wirkt das anfängliche Bild wie blanker Hohn. Was Keller weiterreichen wird, ist die Tatsache, daß es in der Welt von PRISONERS kaum Unterschiede zwischen Opfer und Täter gibt.

Prisoners (USA 2013)
Regie: Denis Villeneuve
Buch: Aaron Guzikowski
Kamera: Roger A. Deakins
Musik: Jóhann Jóhannsson
Darsteller: Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Viola Davis, Maria Bello, Terrence Howard, Melissa Leo, Paul Dano

Die Screenshots stammen von der BluRay (C) 2013 Tobis/Alcon Entertainment.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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