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The White Rites of the Kingdom

Gestern war mal wieder Richard-Stanley-Tag angesagt. Auch wenn Stanley nur wenig Filme gemacht hat und seine Karriere sehr, sehr problematisch verlaufen ist – wenig Filmemacher begeistern mich so wie er. Stanleys Arbeiten und seine Worte regen mich selbst immer wieder an, was meine filmische Tätigkeit angeht – vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß ich seine beiden superschwer rockenden Streifen HARDWARE und DUST DEVIL zu einer Zeit gesehen habe, in der ich „meine eigenen“ Regisseure gefunden habe, und daß diese Filme meinen Wunsch, das selbst auch zu machen, perfekt ausgedrückt haben. Vielleicht liegt’s aber auch daran, daß Stanley so ein Querkopf ist, ein Mensch mit ganz ungewöhnlichen Ansichten über die Welt und einem ganz faszinierenden Faible für das Ungewöhnliche.

So habe ich mir also Stanleys Erstling angesehen, RITES OF PASSAGE, aus dem Jahr 1983. Stanley war ungefähr 15, als er diesen Kurzfilm auf Super 8 gedreht hat. Man sieht, wo er viele Inspirationen geholt hat – Einstellungen erinnern an Kubricks SHINING und 2001, die Musik wurde kurzerhand aus Paul Schraders CAT PEOPLE „entlehnt“ – aber verdammt will man sein, wenn nicht selbst hier schon ein extrem starkes Gespür für aufregende Bilder und ein Interesse an „großen“, aber quasi auch „übernatürlichen“ Themen zu sehen ist: Stanley selbst irrt als Höhlenmensch (!) durch Südafrika und reflektiert im Voice-Over über den Kreislauf von Leben und Tod. Offenbar parallel dazu sehen wir einen modernen Menschen, der vielleicht die Wiedergeburt des anderen ist, vielleicht aber auch nur wie wir alle in diesem endlosen Werden und Vergehen gefangen ist. Natürlich bordet es am Prätentiösen, wenn ein 15jähriger über Leben und Tod Filme macht: Aber ohne die Prätention, das Anmaßende, formt sich vielleicht auch kein Künstler; und auch wenn RITES OF PASSAGE noch als Gehversuch verstanden werden kann, so ist er doch ein interessanter und beeindruckender Versuch.

Auf kleinerer Skala, mit einem gewissen alptraumhaften Witz, inszenierte Stanley viele Jahre später den Kurzfilm CHILDREN OF THE KINGDOM für das 99-Euro-Projekt (im Rahmen dessen diverse europäische Filmemacher Kurzfilme mit einem maximalen Budget von 99 Euro beisteuern sollten). Stanley hetzt durch den Londoner Untergrund, erst durch Höhlen, dann durch U-Bahn-Stationen. Zu Beginn erschießt er einen Angreifer, der wie er selbst aussieht; er selbst hat gleichermaßen eine Kamera wie auch eine Pistole in der Hand, die Waffe in der Hand des anderen ist bei Betrachtung durch die Kamera auf einmal einfach nur eine Banane. Wie ein Getriebener hetzt Stanley durch die Stationen, bis er schließlich wieder in den Höhlen ankommt – und dort von sich selbst erschossen wird, in exakt der Szene, die wir schon gesehen haben. Das ist auf einigen Ebenen ein interessantes Konzept: Zum einen durchläuft die Figur einen puren Alptraum, der sich in einer endlosen Schleife wiederholt und immer in ihren eigenen Tod mündet; zum anderen wirft die Doppelbelegung Kamera/Waffe eine gewisse Frage über die Funktion des Films an sich auf – per Video können wir als Zuseher die fiktiven Figuren der Geschichten immer wieder ihr Schicksal durchleben lassen. Interessant auch, daß sich Stanley über einen Strichcode am Arm identifiziert – in einem Notizbuch finden sich neben merkwürdigen Runen, okkulten Zeichnungen, dem Londoner U-Bahn-Plan (!) auch eine Reihe von solchen Strichcodes, deren letzter den Erschossenen identifiziert. Vielleicht steht der schleifenhaft erlebte Tod für den letzten in einer Reihe von verschiedenen Ichs; vielleicht geht es aber auch um denselben Kreislauf von Leben und Tod wie schon in RITES OF PASSAGE.

Nach den beiden Kurzfilmen habe ich mir dann THE WHITE DARKNESS angesehen, Stanleys Doku über Haiti und Voodoo-Rituale, und dazu dann noch ein Interview mit ihm und seinen Audiokommentar zum Film. Gedanken und Reaktionen zu diesem Film sind hier niedergeschrieben.

Wenn es doch nur mal klappen würde, daß Richard Stanley genug Geld zusammenbekommt, um endlich einen neuen Spielfilm machen zu können!

Wenigstens kann ich mich derweil auf die Neuveröffentlichung von HARDWARE freuen, der Mitte Juni in einer Collector’s Edition auf DVD und Blu-Ray erscheint. Da ist unter anderem sein Kurzfilm INCIDENTS IN AN EXPANDING UNIVERSE dabei, auf den ich sehr neugierig bin. Und wenn der Transfer gut ist, dann erstrahlt einer meiner absoluten Lieblingsfilme endlich in HD-Glanz!

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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