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15. Lateinamerika Festival im Salzburger Das Kino: Ein breit gefächertes Programm zwischen Realismus und Poesie

Es findet nicht jedes Jahr statt, und damit ist das Lateinamerika-Festival ein noch größeres Highlight im Spielplan des Salzburger Das Kinos: Alle zwei Jahre (dank Corona gab es nach 2019 – HIER mein Bericht – auch eine längere Pause, bis 2022) hat man hier die Gelegenheit, spannende Filme aus Ländern zu sehen, die in unserem sonstigen Filmkosmos eher unterrepräsentiert sind – und manche der Streifen erreichen uns außerhalb solcher Festivals ohnehin gar nicht. Vom 7. bis 18. März 2024 fand die mittlerweile 15. Ausgabe des Festivals statt, und in den 12 Tagen wurden 27 Filme gezeigt, von denen ich immerhin 20 sehen konnte – eine vielfältige Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilmen, sperrigen und zugänglicheren Werken, ernsten und leichteren Geschichten. Ich will hier nicht jeden einzelnen besprechen, sondern lieber ein paar Highlights und Besonderheiten hervorheben.

Charmant und zugänglich waren zum Beispiel der Spielfilm ADIÓS BUENOS AIRES und die Doku UN TANGO MÁS (Deutsch: EIN LETZTER TANGO), beide von Regisseur Germán Kral, der auch zu den Vorführungen anwesend war. ADIÓS ist nach zahlreichen Dokumentationen Krals erster Spielfilm, und es ist eine sehr involvierende Geschichte zu Zeiten der argentinischen Wirtschaftskrise 2001 über einen Musiker, der das Land verlassen will, aber dessen Pläne auf verschiedenste Weisen durchkreuzt werden. Die Balance zwischen dramatischen und heiteren Elementen funktioniert wunderbar, da ist Platz für realistischen Zeitbackground (inklusive Dokumentarmaterial von Aufständen auf der Straße) und für herzhaft-anrührende Nebenfiguren (der alte, einst berühmte Tangosänger, den die erfolglose Band aus dem Altenheim heraus reaktiviert, und der während der Auftritte schon mal auf den Spickzettel mit dem Text schauen muss) – alles mit menschlichem Blick und charmanter Leichtigkeit erzählt. Krals Dokumentarfilm UN TANGO MÁS (produziert von Wim Wenders) ist schon von 2015 und lief auch bereits im Kino, passte aber hervorragend dazu: Es ist die Geschichte eines berühmten argentinischen Tangopaares, Maria Nieves und Juan Carlos Copes, die einst auch privat liiert waren – und nach der Trennung noch weiter miteinander arbeiteten. Mit über 80 blicken beide auf ihr Leben und ihre Beziehung zurück – und die Tatsache, dass Maria Nieves gleich zu Beginn erklärt, dass sie alles nochmal genauso machen würde außer der Beziehung zu Copes, zeigt schon, dass es eine komplexe Liebe und Entfremdung war. Auch hier blickt Kral sehr aufmerksam auf seine Protagonisten und hört in ihren Erzählungen sehr genau hin – er hat ein Händchen für das Porträtieren spannender menschlicher Bindungen.

María (Ara Alejandra Medal), die junge Protagonistin von DAUGHTER OF RAGE.

Natürlich wollen viele Filme viel stärker auf die harte Wirklichkeit ihrer Entstehungsländer schauen, von Schicksalen erzählen und die Erfahrung von Gewalt und Hilflosigkeit einfangen. Sehr spannend passiert das im nicaraguanischen Drama LA HIJA DE TODAS LAS RABIAS (Englisch: DAUGHTER OF RAGE) von Laura Baumeister. Die Geschichte handelt von einem elfjährigen Mädchen, das mit seiner Mutter in der Nähe einer Müllhalde lebt – beide kommen mit dem Verkauf von Müll über die Runden. Weil die Mutter aufgrund eines schiefgelaufenen Geschäfts mit lokalen Ganoven in Schwierigkeiten gerät, muss sie ihr Kind zurücklassen und bringt es zu einem örtlichen (illegal betriebenen) Ryclinghof – aber die Tochter beschließt irgendwann, sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu begeben. Der Film schafft eine schwierige Balance: Die hier gezeigte Welt ist hart und realistisch, der Müll sieht auch nach Müll aus, romantisiert wird hier nichts – aber er findet ansprechende Bilder, watet nicht im Dreck, sondern erzählt mit einer stillen Poesie. Es gibt unwirkliche Traumsequenzen, und durch das Narrativ ziehen sich immer wieder Tiermetaphern – besonders stark wirkt dabei eine berührende Traumszene, in der sich das Mädchen ihre Mutter als wilde Katzenfrau vorstellt. Kamerafrau Teresa Kuhn, Absolventin der HFF München, war vor Ort bei der Aufführung und hat interessante Einblicke in die schwierige Entstehung des Films gegeben – da es in Nicaragua keine filmische Infrastruktur gibt, war der Dreh durchaus abenteuerlich.

Weit spröder, aber auch eindringlich erzählt der mexikanische Film EL NORTE SOBRE EL VACÍO (Englisch: NORTHERN SKIES OVER EMPTY SPACE) seine Geschichte von einer Ranch, auf der die Welt des Patriarchen Don Reynaldo langsam in sich zusammenfällt – vor allem, als Ganoven auftauchen, die Schutzgelder erpressen wollen, und er sich weigert, auf ihre Masche einzugehen. Der Film ist langsam und distanziert erzählt, aber es entspinnt sich ein interessanter Quasi-Western über den Zusammenhang von Besitz und Gewalt und über die bröckelnde Fassade alter Männlichkeit. Inszeniert wurde der Film von Alejandra Márquez Abella, die beim letzten Lateinamerika-Festival 2022 mit der Society-Geschichte LAS NIÑAS BIEN vertreten war.

Ungewissheit überschattet die Protagonisten in Nicolás Postigliones INMERSIÓN.

Zwei sehr unterschiedliche Thriller aus Chile haben ebenfalls für Spannung gesorgt. INMERSIÓN (Englisch: IMMERSION) von Nicolás Postiglione erzählt von der Bootsfahrt eines Vaters mit seinen zwei erwachsenen Töchtern. Aus Angst vor einem kriminellen Trick ignoriert der Vater ein sinkendes Fischerboot mit zwei zwielichtigen Gestalten, aber seine Töchter überreden ihn, den Männern zu helfen – aber warum haben die beiden einen blutigen Sack bei sich? Und was haben die verdächtigen Kerle mit dem leerstehenden Haus am Ufer zu tun, das der Vater für seinen Bruder verkaufen soll? Es ist ein ungemein dichtes Kammerspiel auf dem Wasser, das sich tief in die Paranoia der männlichen Hauptfigur eingräbt – ein Film ganz in der Tradition von Polanskis DAS MESSER IM WASSER oder Noyces DEAD CALM.

Wo INMERSIÓN in seinem Beklemmungsgefühl nur auf übertragene Weise von der Furcht in der chilenischen Gesellschaft erzählt, ist der Film 1976 von Manuela Martelli dagegen ganz konkret in seiner politischen Geschichte verankert: Da hilft eine Frau zu Zeiten von Pinochets Militärdiktatur einem befreundeten Pfarrer, einen jungen Widerstandskämpfer zu verstecken, und gerät damit in ein Leben, in dem das unbestimmte Gefühl der Verfolgung immer stärker zunimmt. Auch hier erinnert manches an Polanski, wie hier behutsam vom Alltag inszeniert wird, in den nach und nach die Gewissheit hineinkriecht, dass etwas nicht stimmt – der Film entfaltet sich nur nach und nach, aber zieht einen damit nur umso stärker in einen spannenden Sog, bei dem man stets damit rechnet, dass gleich ein Unglück passieren wird.

1976: Eine Frauenleiche wird am Strand gefunden – makabrer Zufall?

Allgegenwärtig sind Tod und Unheil auch in Theo Montoyas ANHELL69, einem kolumbianischen Film, der als Essay mit Doku- und Spielszenen funktioniert. Der Regisseur nimmt hier ein Projekt als Startpunkt, das nie zustande kam, weil der Hauptdarsteller nur wenige Tage nach dem Casting an einer Überdosis starb – und so porträtiert er stattdessen die queere Subkultur der Stadt Medellín, in der sich die jugendlichen Protagonisten in einem Zustand zwischen Leben und Tod befinden. Es ist eine poetische und tragische Mixtur, die in ihren Visualisierungen der geplanten Filmgeschichte (in der Geister durch die Stadt und durch die Clubs ziehen und Liebesbeziehungen mit den Lebenden eingehen) auch von einem Ort erzählt, der von jahrzehntelanger Gewalt gezeichnet ist und in dem man sich nur verloren fühlen kann – niederschmetternd dann vor allem der Moment im Abspann, in dem einem klar wird, wie viele der gezeigten Menschen mittlerweile sehr jung von uns gegangen sind.

Viel leichtere, aber ebenso mitreißende Kost gab es dagegen mit dem mexikanischen Film ADOLFO von Sofía Auza, der einen schönen neuen Zusatz zum BEFORE-SUNRISE-Subgenre gibt – Filme, in denen zwei Figuren aufeinandertreffen und sich durch die Nacht plaudern. Hier sind es der melancholische Bursche Hugo und das lebenslustige Mädchen Momo, die sich an der Bushaltestelle treffen, gemeinsam auf eine Kostümparty gehen und sich im Laufe der Nacht besser kennenlernen. Ein paar Momente dieser Begegnung sind ein wenig zu kostbar geschrieben (eine Sequenz mit Verweis auf den Beatles-Song „Yellow Submarine“ zum Beispiel ist ziemlich konstruiert und entsteht nie im Leben so spontan, wie der Film tut), aber das tut dem Charme der Geschichte keinen Abbruch: Man geht gerne mit den beiden Hauptfiguren mit, lässt sich mit Neugier auf ihre sympathischen Dialoge ein, wird vom Witz und vom Einfallsreichtum in den Details tragen – und dann wird der Film ernster, blickt auf den Schmerz der Figuren und nimmt ihre psychologischen Schwierigkeiten dabei ganz ernst, um unsere Zuneigung zu ihnen nur noch zu vertiefen. Es ist ein herziger Film, der leider bei uns überhaupt nicht verfügbar ist.

Eine andere feine Jugendgeschichte ist der brasilianische Film SAUDADE FEZ MORADA AQUI DENTRO (English: BITTERSWEET RAIN) von Haroldo Borges, der von einem Teenager handelt, der erfährt, dass er aufgrund einer Krankheit in Kürze sein Augenlicht verlieren könnte. Der Coming-of-Age-Film ist mit Laiendarstellern gedreht und bleibt mit wackliger Handkamera ganz nah an seinen Protagonisten, erzählt einfühlsam und ganz auf Augenhöhe von ihrer Welt und von aufwühlenden Gefühlen, die auch ohne die drohende Erblindung schwierig sind. Auch am anderen Ende des Lebensspektrums begleitet ein Film eine Krankheit: Der chilenische Film LA MEMORIA INFINITA (Deutsch: DIE UNENDLICHE ERINNERUNG) von Maite Alberdi, immerhin 2024 als beste Dokumentation oscarnominiert, begleitet den Journalisten Augusto Góngora und seine Frau Paulina Urrutia während seiner fortschreitenden Alzheimererkrankung. Es ist ein liebevolles Porträt, sehr intim gedreht – teils während der Pandemie von Paulina selbst – und aufgrund des Sujets auch ein sehr schmerzhafter Film, der sehr offen mit Augustos Verwirrung und Paulinas Frustrationen umgeht, aber auch immer ihre Zuneigung im Auge behält. Und gleichzeitig klingt mittels Archivmaterial auch Augustos Vergangenheit an, in der er als Kämpfer gegen die Pinochet-Diktatur stets die Erinnerung an dessen Verbrechen für alle festhalten wollte, und damit ist auch dieser Film ein Stück Zeitgeschichte und fügt sich thematisch mit anderen Filmen des Festivals zusammen. Alberdi war übrigens auch schon beim vorigen Festival vertreten: mit dem skurillen Film EL AGENTE TOPO, wo ein rüstiger Rentner als Spion ins Altenheim eingeschleust wird.

Der Kampf gegen das Vergessen: Paulina Urrutia und Augusto Góngora in LA MEMORIA INFINITA.

Am publikumsträchtigsten war natürlich der Eröffnungsfilm – den ich, soviel Rebellion muss sein!, als allerletztes geschaut habe: der mexikanische Film RADICAL – EINE KLASSE FÜR SICH von Christopher Zalla, der die Geschichte eines Lehrers an einer schwierigen Schule erzählt, der mit ungewöhnlichen Methoden seinen Kindern neue Perspektiven (beziehungsweise: überhaupt welche!) eröffnet. Der Lehrer Sergio basiert auf einem tatsächlichen Pädagogen in Matamoros, aber so oder so funktioniert der Film als Vertreter des „Der eigensinnige Lehrer als Mentor“-Erzählmusters wie am Schnürchen. Es macht Spaß, Sergio bei seinem originellen Unterricht zuzusehen, und man ist natürlich ganz auf seiner Seite, wie er mit Idealismus und Einsatz gegen altbackene Lehrmethoden und skeptische Bürokraten vorgeht. (In solchen Stories gibt es ja immer störrische Vorgesetzte und überkommene Lehransätze, und der besondere Lehrer hat einen unendlichen Vorrat an Energie, sich mit den Privatschicksalen jedes Schülers auseinanderzusetzen – und es gibt in der Klasse natürlich auch keinen einzigen, der zum Schluss nicht begeistert von ihm wäre.) Interessant ist, wie der Film den Spagat schafft, als inspirierende Wohlfühlgeschichte mit Witz und Schwung zu funktionieren – aber gleichzeitig die Realität des Schauplatzes nicht zu verleugnen, in seinem Optimismus nicht verlogen zu wirken und den niederschmetternden Wirklichkeiten des Lebens dort auch Raum zu lassen. RADICAL ist ein Film, von dem man sich gerne mitreißen lässt, und der trotz der vertrauten Erzählformel seine eigenen Gedanken findet.

Die beiden Festivalleiter Sigrid Gruber und Richard Pirngruber haben zusammen mit dem Das-Kino-Team also wieder ein breit gefächertes Programm zusammengestellt, das eine echte Bereicherung war – und wie mir Kinoleiterin Renate Wurm hinterher erzählt hat, gab es dieses Jahr mit über 6000 Besuchern auch ein Rekordinteresse. Dem nächsten Festival steht also nichts mehr im Weg – leider natürlich erst wieder 2026 …

 

Das Programmheft des Festivals kann noch auf der Das-Kino-Website heruntergeladen werden.

Christopher Zallas RADICAL kann über Amazon auf DVD bezogen werden, ebenso wie Germán Krals Filme ADIÓS BUENOS AIRES und UN TANGO MÁS, Maite Alberdis Doku LA MEMORIA INFINITA sowie Theo Montoyas ANHELL69. Manuela Martellis 1976 ist als UK-Import-DVD erhältlich. Alejandra Márquez Abellas EL NORTE SOBRE EL VACÍO ist als Stream bei Amazon Prime zu sehen. Wer über meine Amazon-Links einkauft (egal, was!), unterstützt Wilsons Dachboden!

Coverphoto: Christian Genzel.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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