SAN ANDREAS: Die kalifornische Katastrophe als Familientherapie

Film / Neuer als alt / 24. März 2016

Selten gab es einen beruhigenderen Katastrophenfilm als SAN ANDREAS: Die kalifornische Küste wird von einer Jahrhundertkatastrophe erschüttert, San Francisco wird von einem 9,6-Beben so kleingetrümmert, daß danach jeder MAD-MAX-Film nach ordentlicher Zivilisation aussieht, aber Hauptdarsteller The Rock kann dem Gewackel trotzen, seine getrennte Familie wieder zusammenführen und gegen jede Widrigkeit beschützen. Ein paar Hunderttausend Menschen sterben, aber zum Glück niemand Wichtiges.

Schon zu Beginn sehen wir, was für ein Teufelskerl der von Ex-Wrestler The Rock gespielte Raymond Gaines ist: Der Hubschrauberpilot hat schon über 600 Rettungseinsätze geflogen, unter anderem in Afghanistan („Just doing my job“), und ist gerade zu einer schönen Blondine unterwegs, die mit dem Auto so schwungvoll in eine Schlucht gekullert ist, wie das normalerweise dem Coyoten auf der Jagd nach dem Roadrunner passiert. Jetzt sitzt sie also vertikal an der Steilwand fest und droht weiter in die Tiefe zu segeln; die dezenten roten Schrammen, die sie beim bisherigen Brutalabsturz davongetragen hat, passen malerisch zu ihrem wallenden blonden Haar.

„Ich soll jemanden retten? Ist sie wenigstens hübsch?“

Kein Wunder, daß die Jungs da bei der Rettungsaktion aufs Ganze gehen: The Rock steuert in Schräglage in die Schlucht, obwohl die schmaler ist als der Helikopter, dann klettert ein Teammitglied unter das hängende Auto, um es am Hubschrauber anzuseilen – ganz ungeachtet der Tatsache, dass das Auto ihn dabei zermalmen könnte oder den Hubschrauber in die Tiefe ziehen würde. Leider klemmt er sich dabei den Arm ein, also schaltet The Rock flugs auf Autopilot, klettert aus dem Pilotensitz und steigt selbst hinab, um die junge Dame und seinen Gesellen zu retten. Es endet nicht wie bei CLIFFHANGER im tiefsitzenden Trauma des erfolglosen Retters, sondern in glücklichem Lächeln und schöner Musik.

Erst bei Minute 16 beginnt das Mörderbeben, was sich für das moderne Actionkino rund 15 Minuten zu spät anfühlt. Im großen Vorbildfilm ERDBEBEN dauerte es seinerzeit noch über 50 Minuten, aber in den Siebzigern unterlag man ja noch der sonderbaren Vorstellung, man müsse Figuren etablieren und Handlungsfäden aufziehen. SAN ANDREAS muß neben dem Scheidungsverfahren zwischen The Rock und seiner Noch-Ehefrau Carla Gugino vor allem eine schmucke Bikinischönheit am Pool etablieren, die sich als seine Tochter Blake entpuppt.

Na schön, so läßt sich der moderne Kinogänger schon mal ein paar Minuten Handlung gefallen.

Die opulente Oberweite dieser jungen Dame, die von Alexandra Daddario gespielt wird, fungiert gewissermaßen als roter Faden für die Katastrophenhandlung: Ihre exquisiten Rundungen, die einem begeisterten IMDB-Forenuser sogar das Wort „magical“ abrangen, stellen das Epizentrum der zahlreichen Beben dar und verzaubern auch einen jungen Burschen namens Ben und seinen kleinen Bruder Ollie, die sich beide an Blake anheften, um zuverlässig von der einzigen Sache gerettet werden zu können, die hier nicht wackelt: Übervater The Rock.

Der ist einigermaßen irritiert über das Beben, was sich daran zeigt, daß er die Stirn runzelt. Zum Glück hat er ja seinen Helikopter, mit dem er zunächst seine immer noch geliebte Ehefrau vom Dach eines zusammenkrachenden Wolkenkratzers retten und dann Richtung Töchterlein eilen kann. Andere Menschen ignoriert er auf seinem Weg, und sein Rettungshubschrauber wird auch von niemandem angefunkt – es wäre ja auch unamerikanisch, anonyme Zivilisten einzusammeln, wenn die wohlproportionierte eigene Familie wieder zur ganzheitlichen Liebe zurückgeführt werden muß.

„Das war schon so!“

Der neue Joshi der Ehefrau zeigt derweil, aus welch armseligen Holz er geschnitzt ist: Er läßt die in einem Auto eingeklemmte Blake in einem Parkhaus zurück und rennt im Schock davon. Als die Frau davon Wind bekommt, kläfft sie ihm zackig – und freilich während des Erdbebens! – auf die Mailbox: „If you’re not already dead, I’m going to fucking kill you“. Sie und The Rock werden den Mann nie wieder erwähnen. Wir treffen ihn gegen Schluß des Films nochmal, als ihm ein großes Containerschiff auf den Kopf fällt.

Zum Glück kann The Rock jedes Unglück bändigen – einfach nur, weil er es wirklich will. Er kann mit dem Helikopter umfallenden Wolkenkratzern ausweichen und mit dem Motorboot eine Tsunami-Welle heraufdüsen (und dabei auch dem schon erwähnten Schiff mitsamt herabfallender Ladung ausweichen). Irgendwann springt er mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug heraus (das
er selber geflogen hat und jetzt leer in den Pazifik stürzen wird) ins Zentrum des Bebens, weil dort ja seine Tochter herumirrt. Man wartet jede Minute darauf, daß er auch noch die sich verschiebenden tektonischen Platten mit schierer Muskelkraft zusammenhält.

„Jungs, fällt euch eine lustige Bildunterschrift ein?“

Die gigantische Welle spült dann alles in San Francisco weg, was nicht schon vom Beben zerstört wurde. Blake sitzt derweil in einem von ihrem Jetzt-doch-nicht-mehr-Stiefpapa erbauten Wolkenkratzer, der ebenfalls umzukippen droht und von der Flut nach und nach unter Wasser gesetzt wird. Zum Glück nahen die Eltern schon mit dem Motorboot, mit dem sie mühelos durch den wässrigen Schutt steuern. Überlebende sind keine zu sehen, aber um die würde sich The Rock ja eh nicht kümmern wollen.

Bislang unerwähnt blieb übrigens Erdbebenforscher Paul Giamatti, der schon zu Beginn des Films an einem Frühwarnsystem arbeitet. Als er auf dem Hoover-Damm steht und alles zusammenkracht, weiß er, daß sein System funktioniert. Er wird den restlichen Film über in einem Labor sitzen, auf Computergrafiken schauen und dabei „This is not good“ sagen. Dann erklärt er einer Fernsehjournalistin, daß San Francisco evakuiert werden muß. Zum Schluß wird er lobend erwähnt, weil er damit viele Leben gerettet hat. Man muß es unbesehen glauben.

„Dr. Hayes, Sie haben ein Erdbebenfrühwarnsystem entwickelt. Was möchten Sie uns heute mitteilen?“

Während in sündhaft teuren CGI-Shots die Kamera durch die Lüfte fliegt, während links und rechts die Wolkenkratzer wegbröseln, bleibt die ganze schöne Erdbebenkatastrophe eher unspektakulär: Zu comichaft kippt die Zerstörung über die Städte, zu wenig Körperlichkeit haben die Geschehnisse. Beständig sieht man Hochhäuser zur Seite kippen, auseinanderbrechen, Fensterscheiben zerbrechen – aber man ist nie nah dran, weil nie die tatsächliche Wucht oder gar ein Gefühl der Tragik vermittelt wird. Hauptsache, die Familie hat sich mal ein wenig ausgesprochen.

Am Ende wird die Flagge gehißt und amerikanischer Kampfgeist beschworen. „What now?“, fragt Carla Gugino, wieder Arm in Arm mit ihrem muskulösen Ehemann. „Now, we rebuild“, kündigt The Rock an. Hoffentlich kommt ihm da nicht das angekündigte Sequel in die Quere.

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San Andreas (USA 2015)
Regie: Brad Peyton
Buch: Carlton Cuse
Kamera: Steve Yedlin
Musik: Andrew Lockington
Darsteller: Dwayne Johnson, Carla Gugino, Alexandra Daddario, Ioan Gruffudd, Archie Panjabi, Paul Giamatti, Hugo Johnstone-Burt, Art Parkinson, Kylie Minogue, Morgan Griffin






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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