Close-Up

Close-Up: BLUTGERICHT IN TEXAS – Der Mord an Franklin

 
Nachdem ich vor einigen Tagen über Tobe Hoopers BLUTGERICHT IN TEXAS (im Original: THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE) geschrieben und über die Balance zwischen Sehen und Erahnen geredet habe, die die Phantasie des Zusehers so weit anregt, daß man glaubt, grausame Bilder serviert bekommen zu haben, will ich mal eine Sequenz genauer unter die Lupe nehmen. Es handelt sich dabei um den Mord an dem Rollstuhlfahrer Franklin, der kurz nach Minute 50:00 geschieht. Die Szene zeigt, wie einfach, aber durchdacht Regisseur Tobe Hooper und sein Kameramann Daniel Pearl hier gleichzeitig etwas zeigen und verbergen.

Zu diesem Zeitpunkt des Films wurden bereits drei der fünf Freunde von Leatherface erledigt – wir wissen also schon, wie das mordende Ungetüm aussieht, und ahnen, daß beim nächtlichen Streifzug durch das Unterholz Gefahr droht. Die Szene läßt Franklin und seine Schwester Sally eine ganze Zeitlang durch das Geäst irren, mit stetigen Rufen nach ihren verlorengegangenen Freunden – und natürlich hilft es, daß die Bilder allesamt höchst finster gehalten sind und nur die Taschenlampe dem Zuseher erlaubt, hier und da etwas zu sehen.
(Jeder Screenshot ist eine Einstellung – außer, wenn zwei Screenshots direkt untereinanderstehen, dann zeigt das zweite Bild das Ende derselben Einstellung.)

Nach einiger Suche hört Franklin etwas. Er schwenkt seine Taschenlampe herum und wird von Sally weiter nach links geschoben.

In einer näheren Einstellung schwenkt Franklin die Taschenlampe Richtung Kamera, so daß wir nur den Schein und seine Silhouette sehen. Kurz vor dem Schnitt bewegt sich die Kamera noch weiter auf ihn zu …

… und Leatherface kommt plötzlich aus dem Dunkeln auf ihn zu – beziehungsweise direkt auf uns, weil die Einstellung als POV durchgeht. Leatherface reißt die Kettensäge nach oben, das zittrige Licht der Taschenlampe läßt uns kurz sein Gesicht sehen. Gefühlsmäßig kommt er uns im Frame viel zu nahe.

Die nächste Einstellung ist ein Over-the-Shoulder-Shot hinter Franklin, der nur als Silhouette angedeutet wird. Leatherface bewegt die Kettensäge nach unten, Franklin schreit. Wie uns der zweite Screenshot vom Ende der Einstellung zeigt, wird das Zersägen des Körpers durch die Perspektive komplett verdeckt – nur die Schreie und Franklins Gezappel zeigen uns, was passiert.

Es wird auf eine Einstellung hinter Leatherface umgeschnitten, in der noch weniger zu sehen ist. Der Kegel der Taschenlampe zittert umher, der Körper von Leatherface bewegt sich ein wenig vor und zurück, ansonsten ist nichts wirklich zu sehen.

Jetzt erst kommt ein Reaction Shot von Sally, die die Arme hochreißt und schreit. Man beachte, daß Franklin keine Reaktion und auch sonst keine Nahaufnahme bekommt – es geht beim Tod dieser (ohnehin vorab etwas unsympathisch gezeichneten) Figur primär um den Terror, den das Gesehene bei unserer Hauptfigur auslöst.

Wieder der Over-the-Shoulder-Shot, in dem Leatherface zu einem Stoß mit der Kettensäge ansetzt …

… und mit dem Stoß wird zu einer etwas engeren Einstellung aus derselben Perspektive geschnitten. Es paßt zur Stoßbewegung, und der Zuseher wird näher an das grausame Geschehen herangebracht – auch wenn, wie die oberen Screenshots zeigen, auch hier wieder keinerlei Wunde zu sehen ist und die Kettensäge am Ende der Einstellung sogar schon ganz verdeckt ist. Etwas Blut spritzt auf die Kleidung von Leatherface.

Wieder eine Einstellung auf die panische Sally – diesmal aber mit einer Andeutung des Geschehens im Vordergrund: Links wackelt die Taschenlampe durch das Bild, rechts ist teilweise der Arm von Leatherface mit der Kettensäge zu sehen.

Es folgt eine Einstellung auf Leatherface, der noch einmal mit der Kettensäge ausholt und damit eine Bewegung nach vorne macht. Das, was er damit zersägt (Franklins Körper), ist in dieser Einstellung fast gar nicht zu sehen, weil die Kettensäge ganz knapp am unteren Bildrand entlanggleitet – man sieht nur in den letzten Frames eine leichte schwarze Silhouette.

Noch eine Einstellung von hinten, diesmal von der anderen Seite und mit etwas mehr Distanz als der vorige Over-the-Shoulder-Shot. Leatherface hält die Säge nach oben und läßt sie dann in Richtung von Franklins Kopf niedergehen. Franklin ist auch hier nur schwer zu sehen – in ein paar Momenten sehen wir seine Umrisse im herumwackelnden Licht.

Statt der Wunde sehen wir die neben dem Rollstuhl herunterfallende Taschenlampe.

Noch einmal ein Reaction Shot von Sally – dieselbe Einstellung wie vorhin.

Ein letztes Mal sehen wir Leatherface mit der Kettensäge zustoßen – in einer Einstellung ähnlich der vorhin schon verwendeten Gegenrichtung, aber mit etwas mehr Distanz. Man sieht den Stoß mit der Säge, aber recht viel mehr ist nicht auszumachen.

Sally schreit, dreht sich um und läuft nach hinten fort.

Ihre Flucht beginnt mit einer nahen seitlichen Einstellung, die ihr mit Bewegung nach rechts durch das Unterholz folgt.

Es ist im Detail betrachtet schon bemerkenswert, wie wenig tatsächlich in der Sequenz zu sehen ist – nicht nur, was Blut und Wunden angeht, sondern auch, was das tatsächliche Geschehen betrifft: Es sind Bewegungen und Angriffsrichtungen wahrzunehmen, aber viel mehr eigentlich nicht. Den unglückseligen Franklin sehen wir nur als Umriß, Sally und Leatherface in ein paar wenigen Nahaufnahmen. Und doch läßt uns die Sequenz – die insgesamt ca. 17 Sekunden dauert – einem grausamen Mord auf eine Art und Weise beiwohnen, die unter die Haut geht. Die Szene ist in der Tat vergleichbar mit der berüchtigten Duschszene aus Alfred Hitchcocks PSYCHO, die bei genauer Analyse ebenso zeigt, wie Bilder, die nichts Explizites an sich haben, eine immens suggestive Kraft entwickeln können (siehe diese Website).

Zwei bereits angesprochene Entscheidungen finde ich höchst bemerkenswert: Einerseits der Moment, wo Leatherface auftaucht und direkt auf uns, den Zuseher, zurennt – nirgendwo sonst in der Szene gibt es auch nur annähernd einen POV-Shot, aber diese Einstellung verstärkt den Schockeffekt um einiges (zumal Leatherface auch fast zu nahe an die Kamera herantritt). Sehr schön dabei auch, wie dieses „Hervorspringen“ des Killers im vorigen Shot mit einer leichten Heranfahrt in den letzten paar Frames schon angedeutet wird. Der andere Kniff ist der plötzliche Schnitt auf die engere, aber sonst identische Einstellung, wenn Leatherface mit der Kettensäge zusticht – es suggeriert irgendwie, daß wir näher ans Geschehen kommen und mehr sehen werden, auch wenn der Shot tatsächlich exakt so viel verdeckt wie der vorige.

Der Haupttext zum Film findet sich hier: Blutgericht in Texas.
Eine weitere Szenenanalyse zum Film findet sich hier: Die Szene mit dem Fleischerhaken.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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