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[Film] A Chinese Ghost Story (1987)

Es gibt nur wenige wirklich magische Filmerlebnisse. Natürlich gibt es unzählige fantastische Filmerfahrungen: mitreißende, hinreißend witzige, adrenalinfördernd spannende, intelligente und ästhetisch ansprechende Filme, die man immer wieder sehen kann und die lange Zeit bei einem bleiben. Aber nur eine kleine Handvoll von Leinwanderlebnissen sind wirklich magisch, in dem Sinne, daß sie einen wirklich transportieren, daß sie das flache Bild auf eine PURPLE-ROSE-OF-CAIRO-Art transzendieren, daß sie einen – nun ja: verzaubern. In solch einem magischen Film sitzt man nicht als Cineast oder als Cinephiler – das auch! – und nicht als Kritiker oder als Fan – das natürlich auch! – sondern hauptsächlich als neugieriges Kind, das mit Staunen etwas entdeckt hat, das einen unendlichen Reichtum zu bieten hat.

A CHINESE GHOST STORY von Ching Siu-Tung ist magisch. Wie sonst kann man den Rausch aus Farben und Kinetik, aus phantastischem Abenteuer, bittersüßer Liebesgeschichte und übersprudelndem Witz beschreiben? Da kommt der junge Schuldeneintreiber Ling Choi Sin auf seinen Wegen zum Lan-Ro-Tempel, von dem gesagt wird, daß es dort spukt. Ein taoistischer Mönch, Marshall Yen, der dort zurückgezogen lebt, warnt den unbedarften Helden, daß er nicht bleiben darf, aber Choi Sin hat keine Wahl: Er kann sich die Herberge im nahegelegenen Dorf nicht leisten. Dann lernt er in der Nähe des Tempels die schöne Siu Seen kennen, in die er sich verliebt – ohne zu wissen, daß sie nur ein herumspukender Geist ist und von ihrer Herrin, einem alten Baumdämon, gezwungen wird, Reisende zu verführen, die dann vom Dämon ausgesaugt werden. Siu Seen wiederum verliebt sich in Choi Sins naive Unschuld und will ihn vor ihrer Herrin beschützen – aber wie aussichtsreich ist eine Liebe, in der eine Person ein Geist ist und in wenigen Tagen den Herren der Finsternis heiraten soll?

Ching Siu-Tungs Film ist so unbändig und leidenschaftlich erzählt, daß er sämtliche Genre-Grenzen sprengt – oder besser vielleicht: Er kennt diese Grenzen überhaupt nicht. Hong-Kong-Filme haben schon seit jeher gerne Stimmungen und Genres vermischt – da kann ein infantiler Kung-Fu-Klamauk schon mal in eine Reihe von tödlich ernsten Duellen münden oder ein Horrorfilm mit Slapstick-Einlagen versehen sein – aber in A CHINESE GHOST STORY ist nicht nur die Vielfalt wesentlich größer, sondern die Elemente sind auch viel feiner miteinander verknüpft.

Der Film ist eine Komödie, schon allein durch den tolpatschigen Helden, der ständig ins Wasser fällt, unbeholfen herumstottert und dem beim Versuch, die Geliebte vor einer Schlange zu retten, das Tier flugs ins Hosenbein gerät. Der Film ist eine altmodisch romantische Liebesgeschichte, in der sich die Liebe durch Blickaustausch manifestiert und das reine Herz gegen alles Übel der Welt schützt. Gleichzeitig ist der Film ein tragisches Liebesdrama, in der die Liebenden keine Zukunft haben und nur kurze Glücksmomente teilen können – und wo sich die wahre Hingabe dadurch zeigt, daß der Held die Seele seiner Geliebten retten muß, auch wenn das bedeutet, daß er sie niemals wiedersehen wird.

Aber natürlich ist der Film auch ein Martial-Arts-Streifen, in dem erbitterte Schwertkämpfe und Kung-Fu-Kämpfe gegen Dämonen in schwerelosen Actionchoreographien ausgetragen werden. Es ist ein Fantasy-Film, der seine märchenhaften Elemente zum Teil aus dem LIAOZHAI ZHIYI entnimmt, der chinesischen Geschichtensammlung von Pu Songling aus der Zeit der Qing-Dynastie (die Geschichten wurden großteils im 17. Jahrhundert gesammelt). Es ist mitunter auch ein Horrorfilm, der untote Monster durch den Tempel auf Jagd nach Blut kriechen läßt und den angreifenden Baumdämon mit EVIL-DEAD-Kamera durch den Wald fegen läßt. Und wie bei so vielen phantastischen Geschichten ist auch hier ein reeller politischer Kommentar eingewoben, wenn im Dorf beständig Kopfgeldjäger die Passanten verdächtigen, eventuell gesuchte Verbrecher zu sein, und in einer unglaublich überdrehten Szene vor Gericht der Held mit Stockhieben dafür bestraft wird, Gerechtigkeit zu suchen, und dann beleidigt angewiesen wird, er solle doch nun endlich versuchen, das hohe Gericht zu bestechen.

Es mag sich wie eine kunterbunte Ansammlung von disparaten Ideen ohne roten Faden lesen – aber die Meisterlichkeit des Films liegt unter anderem darin, wie geschickt alle Elemente zusammengeführt und verwoben sind: A CHINESE GHOST STORY ist kein Wechselbad aus verschiedenen Elementen, sondern eine Synthese davon. Da richten sich die Leichen im Tempel in wunderbar altmodischen Stop-Motion-Animationen auf, um Ling Choi Sin an den Kragen zu gehen – aber der ist so unbedarft, daß er von ihrer Anwesenheit überhaupt nichts mitbekommt und auch schon mal eine Leiter auf einen der Untoten postiert. Da stürmen Choi Sin und Marshall Yen die Hölle, um Siu Seen vor dem Herren der Finsternis in einer aufwendigen Actionsequenz zu retten – aber gleichzeitig ist die ganze Mission ja von einer zutiefst romantischen Idee geprägt. Überhaupt hält die Liebesgeschichte um den „kleinen“ Helden und sein unschuldiges Herz den ganzen Film als starker emotionaler Faden zusammen.

Aber eigentlich ist einem diese ganze Aufdröselung beim Ansehen völlig egal. Der Film reißt einen als pures Kino mit: Die Bilder sind in starke Farben getaucht, die die Stimmungen gleichzeitig einfangen und verstärken; die Kamera fliegt ebenso schwerelos durch die Gegend wie die Protagonisten in den endlos kreativen Kämpfen und fängt alle Momente in teils extrem schrägsichtigen Perspektiven ein, die wunderbar zu der phantastischen Welt und zur entfesselten Erzählweise passen; ständig wirbeln Kleider und Stoffe so prächtig durch das Bild, daß alles wie ein poetischer Tanz aus Licht und Farbe wirkt. Und mittendrin immer das schöne, sensible Gesicht von Leslie Cheung, die nicht minder schöne Joey Wang mit sehnsüchtigem Blick, und – als Marshall Yen – Wu Ma, der mit einem unglaublichen angeklebten Bart und erstaunlicher Energie durch den Film fegt.

Man könnte so viele Sequenzen herauspicken und bestaunen: Die Szene, wo Siu Seen Choi San vor ihrer Herrscherin in ihrem Badezuber versteckt und ihm mit einem Kuß unter Wasser Luft gibt (an einer Stelle taucht er zum Luftholen kurz auf und vergißt fast die Gefahr, weil Siu Seen gerade ihr Kleid ausgezogen hat). Oder der Kampf zwischen Yen und einem Herausforderer, bei dem Choi San zwischen die Schwertspitzen beider gerät und verzweifelt versucht, den Kämpfern einzureden, daß sie sich vertragen sollen. Der Film ist voll solch wunderbarer Szenen – und dabei ist er technisch keineswegs perfekt: Mancher Erzählübergang ist holprig geschnitten, es gibt diverse auffällige Anschlußfehler, und obwohl die Spezialeffekte aufwendig gestaltet sind und für einen Hong-Kong-Film von 1987 auch überdurchschnittlich budgetiert waren, sind sie doch immer sehr auffällig Effekte. Aber natürlich ist technische Perfektion auch gerne mal seelenlos und langweilig, während die kleineren Imperfektionen hier auch zur Persönlichkeit des Films gehören.

Der Film – Ching Siu-Tungs dritter, nach DUEL TO THE DEATH und WITCH FROM NEPAL – legte zusammen mit John Woos A BETTER TOMORROW (ebenfalls mit Leslie Cheung) und Tsui Harks PEKING OPERA BLUES (Tsui produzierte übrigens alle drei Filme) den Grundstein für den neuerlichen internationalen Durchbruch im Hong-Kong-Kino: Die Filme aus der englischen Kolonialstadt boten nicht mehr nur die erstaunlichen Kung-Fu-Kämpfe der Siebziger (die Welle war schon Ende der Dekade in die infantile Parodie abgerutscht); hier war der Startpunkt der farbenfrohen Fantasy-Spektakel, die allesamt dem Kulterfolg der CHINESE GHOST STORY folgten, ebenso wie Neuauflagen epischer Martial-Arts-Dramen in bestechender Ästhetik und, in Folge von Woos Film, Gangstergeschichten mit nicht minder erstaunlichen Actionchoreographien. Für die nächsten paar Jahre war Hong Kong das Land, in dem das Kino neu erfunden wurde – so frisch fühlten sich die besten Filme dieser Zeit jedenfalls an. (Ende der Neunziger kopierte Hollywood fleißig eben diesen Stil und besorgte sich dafür mitunter die chinesischen Künstler, die die Vorbilder gestaltet hatten: John Woo, Yuen Woo Ping, Tsui Hark.)

Mittlerweile ist die Hong-Kong-Welle längst abgeklungen, aber A CHINESE GHOST STORY bleibt ein magisches Kinoerlebnis. Es ist ein unglaublich lebendiger Film, der vor Kreativität fast überbordet. Wer sein Kino realistisch und strukturiert braucht, wird hier nicht glücklich – das hier ist ein Film, der gar nicht weiß, was möglich und was unmöglich ist: Er macht einfach.

A Chinese Ghost Story (HK 1987)
Deutscher Alternativtitel: Verführung aus dem Reich der Toten
Regie: Ching Siu-Tung
Produktion: Tsui Hark
Darsteller: Leslie Cheung, Joey Wang, Wu Ma
Länge: 92 Minuten
FSK: 16

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    2 Comments

    1. Ein wirklich schöner Text, der nicht nur Lust darauf macht sich diesen Klassiker wieder anzuschauen sondern auch Erinnerungen weckt an die Zeit, als ich dieses Kino ohne Grenzen für mich entdecken durfte.

      Letztes Jahr lief auf dem Fantasy Filmfest Tsui Harks "Flying Swords at Dragon Gate", der dem inszenatorischem Wahnwitz seines Meisterwerks "The Swordsman" zumindest sehr nahe kam. Das ebenfalls gezeigte Remake von "A chinese ghost story" habe ich dagegen lieber ausgelassen.

    2. Besten Dank! Ja, es war spannend, dieses aufregend neue Kino damals zu entdecken – und es war ja gar nicht immer so einfach, an die ganzen Filme heranzukommen …

      FLYING SWORDS muß ich mir noch ansehen. Was das Remake der GHOST STORY angeht, bin ich auch zögerlich – aber irgendwann werde ich mich da vermutlich doch noch herantrauen …

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