WADD: THE LIFE & TIMES OF JOHN C. HOLMES: Der tiefe Fall eines verlorenen Pornostars

Film / Retrospektive / 24. September 2016

Wenn Mark Wahlberg als Dirk Diggler in BOOGIE NIGHTS, Paul Thomas Andersons schwelgerischem Porträt der Porno-Ära, die Hosen öffnet, ist die Welt um ihn herum baff über seine üppige Ausstattung. Es gibt ein konkretes Vorbild für diese Figur: Pornodarsteller John C. Holmes, den die Branche wegen seines 33 Zentimeter langen Penis‘ mit offenen Armen empfing. Er drehte ab Ende der Sechziger weit über 1000 Filme und wurde in einer Zeit zum Superstar, als die explizite Schmuddelware ihre Hochphase erlebte. Später stürzte er in die Drogenabhängigkeit und wurde kriminell, bis er 1988 an AIDS starb.

Der 1999 veröffentlichte Dokumentarfilm WADD – THE LIFE & TIMES OF JOHN C. HOLMES zeichnet die ausschweifende Karriere und das wilde Leben von Holmes nach. Benannt wurde der Film nach seiner wohl populärsten Figur: dem Privatdetektiv Johnny Wadd, den Holmes ab dem gleichnamigen Streifen aus dem Jahr 1971 in zahllosen Filmen spielte – eine Art Porno-Krimiserie, die Sex mit einer Sam-Spade-ähnlichen Hauptfigur und einigen Actionszenen verband.

Von der braven Existenz …

Mit der Jugend von John Holmes hält sich die Doku nicht allzu lange auf, aber es dürfte keine sehr erfreuliche gewesen sein: Stiefvater Edward war ein manisch-depressiver Alkoholiker, die Familie zog mehrfach um, der spätere Stiefvater Harold vernachlässigte Holmes und seine Geschwister. Mit 16 meldete sich John Holmes freiwillig zur Armee. Mit 21 heiratete er die junge Krankenschwester Sharon Gebenini und schlug sich eine Zeitlang als Stapelfahrer durch, bis er plötzlich die Eingebung hatte, Pornos drehen zu wollen.

Eine ganze Zeitlang zeichnet WADD den Aufstieg von Holmes nach, zeigt einige (nicht explizite) Ausschnitte aus seinen Filmen und läßt diverse Weggefährten zu Wort kommen, die vor allem sein Prachtstück kommentieren – das hin und wieder auch ins Bild kommt. Kollege Richard Pacheco erklärt amüsiert, wie sich in der Arbeit mit Holmes die Damen in drei Lager spalteten: Die einen kamen ins Paradies, die nächsten sahen eher wie bei einer Untersuchung aus, bei der sie sich ständig fragten, ob es bald wehtun würde – und die letzte Gruppe verzog einfach nur qualvoll das Gesicht. „They were magical to watch, no matter what happened“, grinst Pacheco.

… zum Pornostar.

Holmes soll sehr freundlich und zuvorkommend zu den Damen gewesen sein, meinen die meisten Weggefährten, und auch einige Frauen bestätigen, daß Holmes eigentlich ein herzensguter Junge war. Aber schon hier zeichnen sich Brüche im Porträt ab: Eine Darstellerin berichtet, daß er ein grobes Arschloch war, und Ex-Frau Sharon war verständlicherweise auch wenig begeistert über Holmes‘ neue Karriere. Sie versuchte sich mit der Situation zu arrangieren, aber machte sich dabei innerlich so krank, daß sie ihm irgendwann erklärte, daß sie körperlich nichts mehr mit ihm zu tun haben will: „I’ll do your laundry, I’ll be your mother, I’ll be your confessor, I’ll be your sister, I’ll be your friend, but I don’t want to be physically associated with this.“

Holmes erfand Geschichten über sich, die er offenbar irgendwann selber glaubte. Er erzählte in Interviews von einem Universitätsabschluß und stellte die Behauptung auf, mit 14.000 Frauen geschlafen zu haben (was rein rechnerisch eher stressig ausfallen dürfte). Als er von der Sittenpolizei verhaftet wurde, machte er einen Deal, daß er freikommt, wenn er dafür als Informant andere Pornofilmer verpfeifen würde. Er wurde kokainabhängig und – im wahrsten Sinne des Wortes – verpulverte so sein komplettes Vermögen. Irgendwann kam er aus Geldnot mit zwielichtigen Gestalten in Kontakt, für die er als Drogenkurier arbeitete. Durch diese Verbindungen zur Unterwelt wurde Holmes 1981 in einen brutalen vierfachen Mordfall verwickelt – diese düstere Episode seines Lebens wurde 2003 in James Cox‘ Gangsterdrama WONDERLAND aufgerollt.

Ein Bericht über den Wonderland-Fall.

Die Abgründe fangen aber erst an: Während dieser Zeit war Holmes mit der jungen Dawn Schiller liiert, die er kennengelernt hatte, als sie 15 war. Der damals 32-Jährige verführte das Mädchen in monatelanger Werbung und drängte sie dann in eine Abhängigkeitsbeziehung – und gleich mit in die Drogensucht. Er schlug sie und prostituierte sie sogar irgendwann, um an Geld zu kommen. Erst nach fünf Jahren konnte sie sich von ihm lösen: Sie meldete ihn bei der Polizei, vor der er sich in Zusammenhang mit den erwähnten Morden seit Monaten mit ihr zusammen auf der Flucht befand.

Und auch da endet die schlimme Geschichte noch nicht. Holmes wurde freigesprochen und schaffte ein Comeback in der Pornobranche. Er lernte 1982 bei einem Dreh die junge Kollegin Misty Dawn kennen, mit der er eine Beziehung begann. 1986 wurde Holmes aber als HIV-positiv diagnostiziert – und weil er damit in Amerika nicht mehr arbeiten konnte, nahm er ein Angebot aus Italien an und drehte dort trotz seiner Krankheit noch weitere Filme. Glücklicherweise steckte er niemanden an.

Pornodarstellerin Misty Dawn wurde Holmes‘ zweite Frau.

Was ein reißerisches Abtauchen in die Untiefen der Pornoindustrie hätte werden können, wird bei Regisseur Cass Paley zu einem durchaus differenzierten Porträt. Seine größte Bank ist wohl, daß er sowohl Holmes‘ erste Frau Sharon als auch Dawn Schiller interviewen konnte. Beide berichten eindringlich und, soweit man das beurteilen kann, aufrichtig – und obwohl beide im Dunkeln sitzen und ihre Gesichter nicht richtig erkennbar sind, ist doch eine gewisse Traurigkeit in ihren Erzählungen spürbar.

Überhaupt schwingt diese Wehmut bei vielen Gesprächspartnern mit, ob bei Holmes‘ Familie oder seinem Manager Bill Amerson: Egal, wie tief Holmes sank und wie verwerflich seine Handlungen wurden, sein Umfeld hatte offenbar das Gefühl, auch den Mensch hinter dem Monster gekannt zu haben. Vielleicht glaubten sie auch, ihn nach all den schlimmen Geschehnissen gewissermaßen zurückholen zu können.

WADD – THE LIFE & TIMES OF JOHN C: HOLMES erzählt die tragische Geschichte eines Menschen, der glaubt, der Welt nur einen einzigen Wert anbieten zu können: einen langen Penis. Seine Fans hat ihn dafür gefeiert. Er selbst dürfte sich kaum gemocht haben.

Wadd: The Life & Times of John C. Holmes (USA 1999)
Regie: Cass Paley
Buch: Rodger Jacobs
Kamera: Willie Boudevin
Musik: Brad Raylius Daniel, Tad Dery
Darsteller: Bill Amerson, Paul Thomas Anderson, Ron Jeremy, Bob Chinn, Misty Dawn, Larry Flynt, Al Goldstein, Annette Haven, Sharon Holmes, Dawn Schiller, John Leslie, Sharon Mitchell, Kitten Natividad, Richard Pacheco, Bob Vosse, Kenneth Turan, Cicciolina

Die Doku ist als Bonus bei der Doppel-DVD-Edition von WONDERLAND enthalten.
Alle Screenshots stammen von der deutschen DVD (C) 2005 Paramount Pictures.






Avatar-Foto
Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





You might also like