NATURAL BORN KILLERS: Schlangen in einer wahnsinnigen Welt

Uncategorized / 11. September 2016

„I’ve seen the future, brother: it is murder“, grummelt Leonard Cohen zu sanften Klängen über den Abspann von NATURAL BORN KILLERS. Ja, in der Zukunft dieser Welt liegt Mord – und in seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart. Mord ist hier die Quintessenz des Lebens.

Auf einem dreiwöchigen Trip durch die Vereinigten Staaten hinterlassen Mickey und Mallory Knox 52 Leichen. Die beiden sind kein modernes Bonnie-und-Clyde-Pärchen, das dem aufregenden kriminellen Leben nachgeht, und sie sind nicht die großäugigen Teenager aus BADLANDS, die allegorisch ihren Generationenkonflikt austragen. Mickey und Mallory töten ziel- und wahllos, und sie werden zu Stars einer Gesellschaft, die genauso ist wie sie.

Mickey Knox, der Dämon (Woody Harrelson).

Quentin Tarantino schrieb diese Geschichte, die Oliver Stone dann – sehr zu Tarantinos Mißfallen – zur wüsten Provokation und grellen Satire umgestaltete. In den Händen von Stone wird NATURAL BORN KILLERS ein amerikanischer Albtraum, ein wütender filmischer Amoklauf, der keine Gefangenen macht und so unsubtil in seinen Mitteln ist, daß man schon wieder genau hinsehen muß, um die Gedanken dahinter aufgreifen zu können.

Stone treibt die Ästhetik, die er seit THE DOORS entwickelt hatte, hier auf die fiebrige Spitze: VHS-Look gegen Zelluloid, 35mm gegen Super-8, schwarz-weiß, grelle Farben, aufblitzende Bilder von blutgetränkten Fratzen, flimmernde Cartoon-Bilder, künstliche Rückprojekten – hier passiert alles gleichzeitig, und man ist gezwungen, tief in den Irrsinn der beiden Protagonisten einzutauchen. Immerhin sind sie unsere perversen Helden in dieser wahnsinnnigen Welt.

Mallory Knox (Juliette Lewis).

In der ersten Filmhälfte begleiten wir die beiden auf ihrem mörderischen Trip, bis sie dann von der Polizei gefangengenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt sind sie schon Medienstars – Teenager tragen Shirts mit der Aufschrift „Murder Me Mickey“, eine japanische Reporterin berichtet während einer Schießerei mit der Polizei aufgeregt, wie männlich Mickey ist. In der zweiten Hälfte sitzen sie im Gefängnis, wo ein hysterischer TV-Reporter ein Live-Interview mit Mickey zum Superbowl-Sonntag führt – und damit ohne Absicht die Insassen zu einer Revolte anführt, die in einem unkontrollierbaren Massaker endet.

Es ist leicht, NATURAL BORN KILLERS als scharfe Mediensatire zu lesen, als Anklage einer Welt, in der Gewalt und Grausamkeiten für Einschaltquoten und Auflagensteigerung genutzt werden. Der Film haut auch mit Wonne in diese Kerbe: Da filmt der TV-Journalist Mickeys und Mallorys Flucht lieber, als sie zu verhindern, da wird das beklemmende Interview mit dem Serienkiller von den süßen Eisbären der Coca-Cola-Werbung unterbrochen, und in einer Show namens „American Maniacs“ werden die schönsten Morde von Mickey und Mallory in Slow-Motion nachgestellt. Der Film bräuchte das Bild von Charles Manson gar nicht zu zeigen, um an die Faszination rund um den irren Sektenführer zu erinnern.

Das Killerpaar nach vollbrachter Arbeit.

Aber Stone hört bei den Medien nicht auf. In NATURAL BORN KILLERS ist die gesamte Welt krank, gefangen in einem endlosen Rausch der Gewalt. Mallorys Vater ist ein brutaler Prolet, der sie offenbar sexuell mißbraucht – ihre Geschichte wird als Sitcom aus der Hölle gezeigt, den Drecksvater spielt Stand-Up-Komiker Rodney Dangerfield, und wenn er sie bedroht, lacht das Publikum. Mickeys Hintergrund ist kaum besser: ein gewalttätiger Vater, der sich irgendwann vor den Augen des Jungen erschießt.

Sie sind ebenso in die Gewalt hineingeboren wie der Cop Scagnetti, der die beiden jagt: Er erzählt irgendwann, daß seine Mutter von Charles Whitman erschossen wurde, dem (tatsächlich existierenden) Todesschützen, der in 1966 an der Universität von Texas von einem Turm aus wahllos auf Menschen zielte. Scagnetti ist beinahe wie ein Schatten von Mickey und wäre offenbar gerne er: In einem Motel erwürgt er eine Prostituierte, im Gefängnis bietet er sich Mallory als Liebhaber an.

Polizist Scagnetti (Tom Sizemore, links) und Gefängnisdirektor McCluskey (Tommy Lee Jones).

Auch TV-Reporter Wayne Gale wird zum Täter – während des Aufstands schnappt er sich eine Pistole, schießt auf Wachposten und jubelt erregt, sich endlich lebendig zu fühlen. Gefängnisdirektor McCluskey ist ein sadistischer Machtmensch, der einen Plan ausheckt, wie Mickey und Mallory beseitigt können. Jeder hier kann Mickey oder Mallory sein – weshalb die wahnsinnige Machart des Films auch bestehen bleibt, wenn sich Szenen um andere Personen drehen. Und, nachdem schon Charles Whitman erwähnt wurde: Wir sehen Bilder von Manson und O.J. Simpson, im Motelfenster hinter Mickey flimmern Aufnahmen von Hitler, Stalin und dem Vietnamkrieg. Die einzige Wirklichkeit hier ist die menschliche Gewalt.

Es scheint – abgesehen vom eifrigen Zorn von Regisseur Oliver Stone selber – in der Welt von NATURAL BORN KILLERS kaum ein Korrektiv zu diesem Wahnsinn zu geben. Nur eine Figur taucht auf, die eine vage Aussicht auf Heilung verspricht: Ein alter Indianer, der einen Dämon in Mickey und Mallory erkennt und ihn auszutreiben versucht. Er muß es mit dem Leben bezahlen.

„Can’t get rid of your shadow, can you, Wayne?“

Interessanterweise ist dieser Mord offenbar der einzige, der bei Mickey und Mallory Gefühle auslöst. Mickey reut es, daß er den Indianer erschossen hat, Mallory wirft es ihm sogar vor. Vielleicht repräsentiert der Indianer das Schicksal, über das die beiden manchmal reden – er spricht davon, daß er den Dämon einst schon gesehen hat und immer auf seine Rückkehr gewartet hat. Möglicherweise steht er aber auch für etwas Ursprüngliches, das verlorengegangen ist. Immerhin ist, wenn Mickey im Interview von dem Schatten redet, den man nicht loswird, im Bildausschnitt die amerikanische Flagge zu sehen.

Auf jeden Fall bestimmt eine Geschichte, die der Indianer erzählt, das Handeln und Schicksal aller Figuren. Sie dreht sich um eine Frau, die eine verwundete Schlange mit nach Hause nimmt und gesundpflegt – nur, um von ihr tödlich gebissen zu werden. „Warum hast du das getan?“, will sie von der Schlange wissen. „Du hast gewußt, daß ich eine Schlange bin“, lautet die Antwort.

Sensationsreporter Wayne Gale (Robert Downey Jr.) läßt sich von den Gewaltausbrüchen mitreißen.

Nicht nur auf den Indianer, der Mickey helfen will und dafür stirbt, paßt diese Geschichte. Immerhin besteht der Ehering des Killerpaares aus zwei verkeilten Schlangen: Auch Wayne Gale ist überrascht, daß er, nachdem er den beiden beim Gefängnisausbruch geholfen hat, sterben soll – ebenso wie Scagnetti, der sich mit der Mörderin Mallory einläßt und genau das kriegt, was er verdient. Letztlich sind die ganzen Systeme, die hier gezeigt werden – die sensationsgeile Medienwelt, das sadistisch geführte Gefängnis, im Prinzip das ganze Land – genau diese Schlange, die wir nähren und die uns irgendwann beißen wird.

„When they said ‚repent, repent‘, I wonder what they meant“, brummt Leonard Cohen am Schluß. NATURAL BORN KILLERS ist Oliver Stones ohnmächtigster Film.

Mehr Oliver Stone auf Wilsons Dachboden:
WALL STREET (1987)



Natural Born Killers (USA 1994)
Regie: Oliver Stone
Buch: Quentin Tarantino (Story), David Veloz, Richard Rutowski, Oliver Stone
Musik: Brent Lewis
Kamera: Robert Richardson
Darsteller: Woody Harrelson, Juliette Lewis, Robert Downey Jr., Tom Sizemore, Tommy Lee Jones, Rodney Dangerfield, Edie McClurg, Evan Handler, Balthazar Getty, Pruitt Taylor Vince, Steven Wright, Joe Grifasi, Arliss Howard






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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