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CITY HALL: Die Macht eines Handschlags

„Menschkeit“: Dieser jiddische Begriff – eine Abwandlung des Wortes „Menschlichkeit“ – taucht immer wieder in dem Politdrama CITY HALL auf. „Menschkeit“ hat etwas mit Ehre zu tun, mit Charakterstärke – der „Mensch“ im Jiddischen ist mit all den positiven Attributen versehen, nach denen wir streben (Spuren dieser Bedeutung zeigen sich in der geläufigen Negation „Unmensch“). Kurz gesagt: Wer „das Richtige“ tut, zeigt „Menschkeit“. Bürgermeister John Pappas definiert den Begriff im Film auf interessante Art und Weise: „The space between a handshake“.

Pappas bemüht sich sehr, „richtig“ zu handeln, und seine Händedruck ist etwas wert. Entsprechend verehrt wird er von seinem Stellvertreter, dem jungen Kevin Calhoun. Der ist mit immensem Idealismus aus Louisiana nach New York gekommen und arbeitet nun als Pappas‘ rechte Hand. Calhoun und Pappas verstehen, wie die große Politik funktioniert: Es ist ein Geben und Nehmen. Um seine Baupläne für ein neues Bankenzentrum in Brooklyn umzusetzen, das Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln wird, schließt Pappas mit dem Lokalpolitiker Frank Anselmo ein Abkommen, daß er in absehbarer Zeit dessen Pläne für neue U-Bahn-Haltestellen befürworten werde – die werden nämlich den Baugrund erheblich aufwerten, an dem Anselmo finanzieller Teilhaber ist. Die Abmachung wird quasi per Händedruck während einer Musical-Aufführung getroffen – Pappas und Anselmo sind alte Freunde von früher.

Als bei einer Schießerei zwischen einem Undercover-Cop und einem Drogendealer auf offener Straße nicht nur Polizist und Gangster sterben, sondern auch ein sechsjähriger Junge, versucht Calhoun, mehr über die Hintergründe dieser Tragödie herauszufinden. Warum war der Cop ohne Partner unterwegs? Und warum befand sich der Dealer auf freiem Fuß, wo er doch zuvor schon mit einer langen Liste an Anklagepunkten vor Gericht stand? Im Zuge dieser Ermittlungen deckt Calhoun ein immer verzweigteres Netz an Vertuschungen auf – und allesamt sind es Handschlag-Abmachungen.

Es stellt sich also heraus, daß der Dealer ursprünglich 10 bis 20 Jahre Gefängnis hätte kriegen sollen – aber dann nur zu kurzer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Warum? Weil er der Neffe des Mafiabosses Paul Zapatti war. Und weil Zapatti seinen Namen aus den Zeitungen heraushalten will, bittet er einen alten Freund und Geschäftspartner, Geld im Anwesen des toten Polizisten zu verstecken – um die Medien auf die Bestechlichkeit der Polizei hinzulenken. Der Geschäftspartner, der Zapatti diesen Gefallen tut, ist Frank Anselmo.

Es sind lauter kleine Gefallen, aus denen sich diese Welt zusammensetzt, und sie ziehen weite Kreise. Irgendwann landet Calhoun bei dem alten Richter Walter Stern, der seinerzeit die Bewährungsstrafe als Urteilsspruch gab. Es war wahrscheinlich ebenso ein Gefallen per Handschlag, ein Entgegenkommen für ein anderes. Vielleicht war es der einzige Fehltritt im Leben eines sonst anständigen Mannes – vielleicht aber auch nicht. „You don’t sum up a man’s life in one moment“, warnt Pappas seinen Stellvertreter vor einem allzu schnellen und harschen Urteil über Stern. „I’ve known Walter my whole life. God, the man is – he’s a decent man, he’s a good man.“

Aber Pappas‘ Verteidigung ist reines Wunschdenken: Manche Fehlentscheidungen sind eben genau jene, nach denen das Leben eines Mannes definiert wird – wie bei Nixon und Watergate. „A man’s life is not the bricks, it’s the mortar“, erklärt Pappas – also nicht die Einzelteile, sondern das, was alles zusammenhält. Man möchte ihm zustimmen, aber manchmal ist so ein Händedruck eben schlichtweg Korruption, und ein Freundschaftsdienst hat dann nichts mit Ehre und „Menschkeit“ zu tun, sondern ist nur ein Tauschgeschäft. Vielleicht hat Stern selber einmal einen solchen Gefallen erhalten und mußte ihn so zurückzahlen.

„There’s black, and there’s white, and in between is mostly gray. That’s us“, sagt Pappas an anderer Stelle. „It’s what we are.“ Im Prinzip stimmt das natürlich: Die Welt ist viel zu komplex, um sie in einfache Gut-Schlecht-Schemata einzuteilen. „Menschkeit“ ist etwas, wonach man streben kann – aber kein Mensch ist perfekt. Dazu paßt auch das Kennedy-Zitat, das an einer Stelle des Films fällt: „An error doesn’t have to become a mistake until you refuse to correct it.“

Zum Schluß aber zeigt sich, daß Pappas all diese Belehrungen über Grauzonen als Rechtfertigung für sich selbst verinnerlicht hat: Calhoun kommt darauf, daß es Pappas selbst war, der Stern um die verminderte Strafe gebeten hatte – als Freundschaftsdienst für Anselmo, der seinerseits Zapatti einen Gefallen tat. Und wahrscheinlich hat sich keiner der Beteiligten wirklich viel dabei gedacht – nur daß sie diese Kette an Handschlagdeals nun mitverantwortlich am Tod eines Kindes gemacht hat. „But down deep you know there’s a line you can’t cross“, erklärt Pappas seine Entscheidung, „and after a thousand trades and one deal too many, the line gets rubbed out“. Wahrscheinlich bringt das die Crux der Politik auf den Punkt: Das Geben und Nehmen ist ein essentieller Bestandteil eines solchen Amtes, und irgendwann rechtfertigt man genau damit einen Handschlag, von dem man eigentlich weiß, daß man ihn nicht geben sollte.

Als Calhoun Pappas mit dem Ergebnis seiner Nachforschungen konfrontiert, sagt er ihm, daß sein Konzept von „Menschkeit“ Schwachsinn ist – es geht dabei nur um Abmachungen in Hinterzimmern. Man merkt, daß Pappas eigentlich an seine Version geglaubt hat: Sein Konzept von Ehrenwort und Charakterstärke war eine perfekte Selbstlüge. Und auch wenn Calhoun in einem sozusagen ödipalen Vatermord seinen Mentor dazu bringt, zurückzutreten, bleibt eine Enttäuschung über das Ungeschehene bei ihm übrig: „The things you could have done“. Daß Politiker offenbar nur etwas bewirken können, wenn sie durch solche Handschlagdeals ihre Macht erringen und erhalten, muß Calhoun im Epilog erfahren, der nur oberflächlich betrachtet als idealistisches Happy End an den Film geklebt wurde: Er tritt als unabhängiger Kandidat bei einer Wahl an und verliert gnadenlos.

Was bleibt also übrig von der „Menschkeit“? Nun, im Grunde genommen läge Pappas nicht so daneben: Ein Handschlag ist etwas wert, ebenso wie das Ehrenwort, und es ist gut und wichtig, sich anderen gegenüber mit Respekt und Loyalität zu verhalten. Das Problem entsteht dort, wo man das Konzept des „richtigen Handels“ dorthin verschiebt, wo man es gerade braucht. Das „Richtige“ ist eben oft etwas anderes als das „Einfache“. Und im Sinne des obigen Kennedy-Zitates ist „Menschkeit“ vielleicht nicht, das „Richtige“ zu tun – sondern zu versuchen, Fehler nicht zu Fehltritten werden zu lassen. Es ist nicht der Raum zwischen einem Händedruck, sondern der Raum zwischen zwei Handlungen.



City Hall (USA 1996)
Regie: Harold Becker
Buch: Ken Lipper, Paul Schrader, Nicholas Pileggi & Bo Goldman
Kamera: Michael Seresin
Musik: Jerry Goldsmith
Darsteller: Al Pacino, John Cusack, Bridget Fonda, Danny Aiello, Martin Landau, David Paymer, Tony Franciosa, Richard Schiff, Nestor Serrano, John Slattery
FSK: 12

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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