FilmRetrospektive

PROXIMITY – AUSSERHALB DES GESETZES: Gehen Sie weiter, es gibt hier keine Verschwörung!

Häftling William Conroy hat größere Probleme als der übliche Gefängnisinsasse: Nicht nur, dass der Universitätsprofessor mehrere Jahre einsitzen muss, weil er sich betrunken hinter das Steuer gesetzt und bei einem Unfall den Tod einer Studentin, mit der eine Affäre hatte, verursacht hat. Ein halbes Jahr vor seiner Bewährungsanhörung wollen ihm nun auch noch die Gefängniswärter und der Direktor ans Leder. Grund dafür könnte sein, dass Conroy nachts aus der benachbarten Zelle einen Kampf gehört hat, aber dann die Info kriegt, dass sich Insasse Evan erhängt hat. Das macht Conroy stutzig – zumal Evan ihn noch kurz zuvor darauf hingewiesen hat, dass in diesem Gefängnis in den letzten Jahren schon häufiger sehr mysteriöse Todesfälle zu beobachten waren.

Nachdem er den Vorfall gemeldet hat, wollen ihn die Verantwortlichen nun also auch schnell und unauffällig aus dem Verkehr ziehen. Man könnte ihnen dafür freilich einen schnelleren und unauffälligeren Plan ans Herz legen als jenen, den sie tatsächlich wählen: Conroy wird zusammen mit einem anderen Häftling, Lawrence, in einen kleinen Gefangenentransporter gesetzt, um zu einem angeblich nach vorne geschobenen Anhörungstermin gefahren zu werden. Auf der Fahrt zückt Lawrence plötzlich ein Messer und greift Conroy an, aber im Gerangel wird stattdessen der Fahrer verwundet, der Transporter landet im Fluss, und Conroy flieht, nachdem die Wärter dann auch noch auf ihn schießen. Man möchte ja zu gerne den Bericht der Gefängnisleitung sehen, wenn der Plan aufgegangen wäre: „Es ist unklar, woher der Gefangene Lawrence eine Waffe hatte, aber wir nehmen den Vorfall sehr ernst und ersuchen daher um eine Budgetverdoppelung, um unsere Sicherheitsmaßnahmen erweitern zu können. Und um uns Terminkalender zu kaufen, damit wir nicht nochmal Leute umsonst durch die Gegend kutschieren.“

Conroy (Rob Lowe) bleibt wachsam und systemkritisch.

Während Conroy nun also wie weiland Dr. Kimble auf der Flucht vor der Polizei und vor den Killern ist und gleichzeitig den Fall aufklären will, zeigt uns der Film in langen Video-Interviews Gespräche mit Menschen, deren Angehörige Opfer von Gewaltverbrechen wurden und die finden, dass die gefassten Täter zu milde bestraft wurden. Die Videos führen uns zur Organisation „Justice for Victim Families“, mit der der einflussreiche und höchst reaktionäre Jim Corcoran für mehr Gerechtigkeit für die Opfer sorgen will – indem die Strafen für Täter drastisch erhöht werden sollen. Corcoran wird von James Coburn gespielt, den man in einen ziemlich engen Anzug gestopft hat und der im Gespräch mit einer Angehörigen, die gerade ihre Leidensgeschichte schildert, kurz so aussieht, als würde er einschlafen und nach hinten umkippen.

Irgendwie kommt Conroy auf Corcoran und seinen Verein und bricht in deren Hauptquartier ein. Dort findet er in einer schönen Schatulle eine Reihe von Heimvideobändern, auf denen Angehörige Corcoran bitten, einen bestimmten Übeltäter doch bitte über den Jordan zu schicken, und Corcoran ihnen für ein üppiges Entgelt zusichert, ihr Anliegen an den Gefängnisdirektor weiterzuleiten, der sich darum kümmern wird. (Ob es in diesem Staat nur ein einziges Gefängnis gibt oder Corcoran mit allen Direktoren solche Deals hat, bleibt offen. Vielleicht hat er ja auch Glück und erwischt immer Angehörige, deren Wunschkandidaten im selben Knast wie Conroy sitzen.) Dass Corcoran diese Absprachen komplett auf Band aufzeichnet und auch sauber mit dem Namen des Täters bzw. Opfers beschriftet, ist freilich sehr zuvorkommend von ihm – da könnten sich andere Missetäter doch mal ein Scheibchen von abschneiden, um etwaigen ermittelnden Behörden später nicht die Arbeit unnötig zu erschweren. Conroy selber erklärt, er nimmt die Absprachen auf, um zu zeigen, dass er von Anfang an dabei war, wenn die Gesellschaft endlich zur „Auge um Auge“-Mentalität zurückkehrt – und um zu zeigen, dass er ja selber nie direkt involviert war. Auch hier würden einem doch bei genauem Nachdenken Wege einfallen, wie man das noch besser verschleiern könnte.

Will erst hart durchgreifen und sich dann einen besseren Schneider suchen: Jim Corcoran (James Coburn).

Der Gefängnisdirektor fährt derweil das große Programm auf, um Conroy zu erledigen. Er schickt nicht nur seine beiden mörderischen Wärter los, sondern gibt ihnen als Begleitung auch Lawrence hinzu, der sich ohnehin immer um die schmutzigen Details kümmert (und diesmal im Gegensatz zum Gefangenentransportplan auch keine Handschellen und Ketten tragen muss). Dass Lawrence ein gefährlicher Massenmörder ist und daher vielleicht nicht der vertrauenswürdigste Kandidat ist, um frei an der frischen Luft herumzulaufen, scheint angesichts der Dringlichkeit der Vertuschung eher eine untergeordnete Sorge zu sein. Die beiden Wärter jedenfalls wirken sehr überrascht, als Lawrence sie plötzlich angreift, ihnen die Waffe abnimmt, Conroys Anwalt beim Verhör umbringt und sich dann aus dem Staub macht. Heutzutage kann man wirklich niemandem mehr trauen.

Überhaupt scheint der Planungsansatz der Wärter zur Beseitigung von Conroy nach dem Motto „Vertuschen können wir auch später“ zu funktionieren. Sie fahren zu Conroys Frau, wo sie den Flüchtling auch finden. Der schnappt sich das Auto seiner Frau und macht sich erneut aus dem Staub, und es scheint niemanden in der Nachbarschaft wirklich zu kratzen, dass da jemand eifrig am hellichten Tag wiederholt auf ein davonbrausendes Fahrzeug schießt. Auch die anschließende Verfolgungsjagd durch die Stadt sorgt nicht für Aufruhr – das kommt davon, wenn man nach dem Konsum zu vieler Actionfilme schon übermäßig abgebrüht ist. Danach sitzt der Finger am Abzug noch lockerer bei den Wärtern: An einer Stelle, als Conroy gerade von einem Wachmann entdeckt und abgeführt wird, ballert der eifrige Wärter einfach mal in Richtung der beiden – weshalb Conroy dann leider auch schon wieder entkommen kann.

Unauffällige kriminelle Gefängniswärter mischen sich so unter das gemeine Volk, dass der gewöhnliche Stadtbewohner keinen Verdacht schöpft.

Lawrence, der noch eine üppige Belohnung seitens des Gefängnisdirektors in Aussicht gestellt bekommen hat, entführt derweil Conroys Frau und will eine Übergabe im Austausch gegen das kompromittierende Videoband von Corcoran arrangieren. Als Treffpunkt wählt er dafür eine U-Bahn. Dass da andere Fahrgäste dabei zusehen können, wie er die Frau mit der Waffe bedroht, scheint ebenfalls ein vernachlässigbares Problem zu sein. Wirklich beunruhigt sind die Fahrgäste eh erst dann, wenn es zur Schießerei zwischen Lawrence, den Wärtern, Conroy und zwei U-Bahn-Wachen kommt, bei der dann leider der ebenfalls anwesende Gefängnisdirektor (vielleicht wollte er ebenfalls demonstrieren, dass er nichts mit der Sache zu tun hat) das Zeitliche segnen muss.

Was macht eigentlich die Polizei während des ganzen Films? Die haben offenbar gewartet, bis die Lage wirklich ihrer Aufmerksamkeit bedarf. Ein paar Kugeln, ein paar kaputte Autos, ein vom Hochhaus geworfener Anwalt, das ist ja den Papierkram nicht wert. Als dann aber die Gefängniswärter Conroy durch ein Einkaufszentrum verfolgen und dabei wie die Wahnsinnigen beständig in die Menge ballern (freilich ohne irgendjemanden zu erwischen), wird es den Gesetzeshütern doch zu bunt und sie schreiten ein.

Ach ja, einen Enthüllungsjournalisten gibt es auch noch, der seinerzeit schon über Conroys Fall geschrieben hat und nun hocherfreut über das zugespielte Corcoran-Tape ist. Er wird zur vollständigen Aufklärung wohl etwas weniger herumtelefonieren müssen als noch Woodward und Bernstein.

Sagen wir es mal so: Es gibt plausiblere Actionfilme.

 

Proximity – Außerhalb des Gesetzes (USA 2000)
Originaltitel: Proximity
Regie: Scott Ziehl
Buch: Ben Queen & Seamus Ruane
Kamera: Adam Kane
Musik: Stephen Cullo
Co-Produzenten: Alan Schechter, Darren Demetre
Produzent: Joel Silver
Darsteller: Rob Lowe, Jonathan Banks, Kelly Rowan, T.C. Carson, Joe Santos, Mark Boone, jr., David Flynn, James Coburn

Alle Screenshots stammen von der DVD (C) 2002 Columbia Tristar Home Entertainment.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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