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I WANT TO TELL YOU: Wie O.J. Simpson während seines Prozesses an die Öffentlichkeit ging

Das vor kurzem hier vorgestellte Buch IF I DID IT aus dem Jahr 2007, in dem O.J. Simpson mit Hilfe eines Ghostwriters ausführte, wie er den Mond an seiner Ex-Frau Nicole Brown und ihrem Bekannten Ron Goldman theoretisch begangen hätte, wenn er es denn gewesen wäre, ist nicht das erste Buch, das der Ex-Footballstar zu dem Thema veröffentlichte. Tatsächlich erschien schon 1995 ein Büchlein mit dem Titel I WANT TO TELL YOU und dem Untertitel „My Response to Your Letters, Your Messages, Your Questions“. Die Antwort auf die wohl dringlichste Frage dieses Falles kommt schon sehr früh und klärt doch nichts: „I want to state unequivocally that I did not commit these horrible crimes.“

Das Buch erschien, während Simpson als Mordverdächtiger im Gefängnis saß und der Fall in einem monatelangen Prozess höchst medienwirksam aufgerollt wurde. Geschrieben hat er I WANT TO TELL YOU aber nicht selber: Lawrence Schiller, der schon Bücher über die Sharon-Tate-Morde und Lee Harvey Oswald schrieb, traf sich zu mehreren Interviews mit Simpson und formte 22 Stunden an Gesprächsmaterial dann zu diesem Statement aus Sicht von O.J. Verschwiegen wird diese Tatsache übrigens nicht: Schiller legt den Ablauf gleich in seinem Vorwort dar.

Der Aufhänger des Buches ist, wie gleich unmißverständlich erklärt wird, das Interesse der Öffentlichkeit: „This book began with 300.000 letters from men, women, and children of all ages, occupations, national and ethic backgrounds, from all fifty states and many countries of the world, who chose to write to a man they had never met.“ Quer durch das Buch sind zahlreiche Briefe von Menschen abgedruckt, die O.J. ein paar Zeilen geschrieben haben, und die Nachrichten dienen als Aufhänger für Simpsons Gedanken zu verschiedenen Themen.

Es muß vielleicht gar nicht extra erwähnt werden, daß ein Großteil der Briefschreiber O.J. für unschuldig hält. Sie schicken ihm ihre besten Wünsche, trostreiche Worte und Gebete. Durchhalten soll er, beten und auf Gerechtigkeit hoffen. Selbst die Kleinen schlagen sich auf seine Seite: „I know you didn’t kill your wife, because you loved her very much“, schreibt da ein 8-Jähriger. „You are the most handsomest black man I have ever seen“, heißt es in einem anderen Brief.

Immerhin sind ein paar Briefe zu finden, die die Möglichkeit der Schuld einräumen. Nicht, daß dieses Szenario diese 12-jährige Schreiberin wirklich stören würde: „I don’t think you killed Nicole or Ronald. Even if you did, I would still be your fan and so would my mom because everyone makes mistakes.“

Es ist schon sehr durchschaubar, wie naiv hier Image-Management betrieben wird. Immerhin stand der Ausgang des Prozesses noch aus, die öffentliche Meinung und Berichterstattung tendierte dazu, Simpson für schuldig zu halten. Immer wieder beteuert er, es nicht getan zu haben, und packt obendrein ein paar schöne Bilder aus den glücklichen Jahren seiner Ehe ins Buch. Er erklärt, Nicole trotz der Trennung geliebt zu haben – daß er nach einem zweiten Anlauf des Zusammenlebens von ihr nichts mehr wissen wollte, wie später in IF I DID IT erklärt wird, wird hier aus verständlichen Gründen nicht einmal angedeutet.

Dabei ist Simpson sogar ehrlich, was den anderen Zweck des Buches angeht: Die Erlöse von I WANT TO TELL YOU sollten helfen, die Kosten für seine Verteidigung zu tragen. „Many people think that I am very rich and have access to unlimited funds. This is not the case“, erklärt er noch im ersten Kapitel. „I am using all my financial resources, and I am now in need of additional funds for my defense. I have asked the writers of the letters included here to contribute their letters, with an explanation that the income derived from this book will go to my defense fund.“

Zwischen PR und Sicherung des Finanzpolsters wird die Luft dann aber doch sehr dünn. Wie Simpson erläutert, darf er über die im Verfahren diskutierten Geschehnisse nicht sprechen – weswegen er eigentlich nichts Spezifisches sagen kann, was den Mordfall oder seine eventuelle Verstrickung darin betreffen würde. So rettet er sich ins Vage: Er redet über seinen Glauben, über seine Freunde, über das Leben im Gefängnis, über das Thema Rassismus und über seine Football-Karriere. Alles wird nur kurz angeschnitten und immer wieder von Briefen unterbrochen, als würde die schiere Menge an Nachrichten etwas beweisen.

Es ist ein frustrierendes Buch, das umso bizarrer wird, je länger man darüber nachdenkt. Wenn Simpson tatsächlich unschuldig ist, wie er behauptet, wäre es wohl trotz monetärer Anliegen sinnvoller gewesen, das Ende des Prozesses abzuwarten, um dann spezifisch auf die Geschichte und die Vorwürfe eingehen zu können – oder eben den Freispruch einfach für sich sprechen zu lassen. Stattdessen wird eine öffentliche Unschuldsbeteuerung produziert, die ihre Bestätigung quasi aus einem Vertrauen heraus beziehen will, das vor allem mit den Briefen aufgebaut werden soll. Sollte er dagegen schuldig sein, wäre das Buch ein zynisches Machwerk, das in seiner Beschwörung von Werten fast soziopathisch wirkt. So oder so bleibt eine Schwarte, die immens manipulative Absichten hegt.

„When the jury finds me innocent, when the evidence shows I am innocent and I am set free, I wonder whether the public will ever accept my innocence. I don’t think some people will“, heißt es an einer Stelle. Am 3. Oktober 1995 wurde Simpson nach einem elfmonatigen Prozeß freigesprochen: Nicht schuldig, befand die Jury. Nach einer Studie der Washington Post aus dem Jahr 2015 halten 83% aller Weißen und 57% aller Schwarzen O.J. trotzdem für den Täter.


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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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