GONE GIRL – DAS PERFEKTE OPFER: Vom Verschwinden eines Identitätswandlers

Film / Neuer als alt / 24. Februar 2016

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Eine Hand streicht zärtlich über das blonde Haar einer von uns abgewandten Frau. „When I think of my wife, I always think of the back of her head“, hören wir einen Mann im Voice-Over erzählen. „I picture cracking her lovely skull, unspooling her brain, trying to get answers.“ Die Frau dreht den Kopf, blickt jetzt emotionslos in unsere Richtung. Wir wissen nicht, was sie denkt.

Die ersten paar Sekunden von David Finchers GONE GIRL sind wie eine Miniatur des gesamten Films. Es ist die Geschichte einer Beziehung, die auf den ersten Blick liebevoll wirkt, aber unter deren Oberfläche Gewaltphantasien lauern. Es ist die Geschichte eines Rätsels, zu dem wir Antworten suchen. Und es ist die Geschichte einer Frau, die wir gewissermaßen von verschiedenen Seiten sehen – ohne je zu wissen, was in ihr vorgeht.

Die rätselhafte Amy (Rosamund Pike) in der ersten Einstellung des Films.

Die Frau ist Amy Dunne, das GONE GIRL des Titels, und sie verschwindet ausgerechnet an ihrem fünften Hochzeitstag. Ihr Ehemann Nick findet einen zerbrochenen Tisch im Wohnzimmer, die bald herbeigeholte Polizei bemerkt weggewischte Blutspuren am Küchenboden. Schon bald wirft das mysteriöse Verschwinden von Amy ein schlechtes Licht auf Nick – zumal sich herausstellt, daß die Ehe der beiden schon länger keine glückliche mehr war und Nick eine junge Geliebte hat. Im Medienwirbel um die Suche nach Amy drängt sich immer mehr die Frage auf, ob Nick Amy vielleicht ermordet hat …

An GONE GIRL sieht man, was passiert, wenn ein brillanter Regisseur sich mit ebenso begabten Mitstreitern eine Geschichte vorknöpft, die anderswo nur einen schnellen, kleinen Reißer hergegeben hätte. Der Film ist ein immens spannender Thriller, ein perfekt inszeniertes Spiel mit Rätseln und Überraschungen – und kann die Beschränkungen seiner Geschichte dabei immer nur biegen, aber nie brechen.

Eine Ehe im Schatten: Amy (Rosamund Pike) und ihr Ehemann Nick (Ben Affleck).

Fincher macht in GONE GIRL das, was er auch sonst macht: Er leitet den Zuseher mit immens sicherer Hand durch eine atmosphärisch dichte Welt. Schon, was das Handwerk angeht, ist es eine Freude, seiner souveränen Inszenierung zuzusehen: Die Bilder sind in kühle Perfektion getaucht und lassen Abgründe erahnen, darunter schimmern wie in THE SOCIAL NETWORK und VERBLENDUNG dunkle Ambient-Klänge, die sich manchmal wie hartnäckige Störgeräusche nach vorne schieben. Wie ein Maestro holt er manchmal weit aus, um dann wieder alles auf einen kleinen Moment zu reduzieren: Trotz akribisch orchestrierter Höhepunkte kann es trotzdem manchmal einfach nur ein stummer Blickwechsel sein, der am meisten über die Figuren aussagt.

Die erste Stunde lang rätseln wir mit, was passiert sein könnte, wem unsere Sympathien gelten dürfen. Dann verschiebt sich unsere Wahrnehmung – wir gewinnen Klarheit über eine Person und dürfen weiter über die Pläne der anderen spekulieren. Aus diesem Vexierspiel schält sich die Geschichte einer Person, die ihre Identität beständig neu gestalten kann, sich immer wieder neu inszeniert

Wer tut hier wem etwas an?

Gerade hier stößt Fincher letztlich auch an die Grenzen von GONE GIRL. Alle Rätsel und alle Überraschungen dienen nur der Konstruktion einer mysteriösen Geschichte und tragen nichts zum Verständnis der Figuren bei. Die Entwicklungen sind so gebaut, daß sie auf den erzählerischen Effekt abzielen, aber die Psychologie der Protagonisten kaum ausleuchten. So verführerisch und effektiv hier alles aufgezogen ist – zum Schluß greift man nur in leere Luft, wenn es um irgendeine Charakterzeichnung dieses Identitätswandlers geht. Es war nie wirklich ein komplexer Mensch aus Fleisch und Blut, sondern nur eine Variable des perfiden Plots.

GONE GIRL ist ein immens spannender Thriller. Leider, möchte man am Ende sagen: Es hätte auch ein noch spannenderes Drama werden können.

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Gone Girl – Das perfekte Opfer (USA 2014)
Originaltitel: Gone Girl
Regie: David Fincher
Buch: Gillian Flynn, nach ihrem Roman
Kamera: Jeff Cronenweth
Musik: Trent Reznor & Atticus Ross
Darsteller: Ben Affleck, Rosamund Pike, Neil Patrick Harris, Tyler Perry, Carrie Coon, Kim Dickens, Patrick Fugit, David Clennon, Missi Pyle, Emily Ratajkowski






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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