[Buch] Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885)

Buch / 19. Februar 2013

Meine letzte Begegnung mit Theodor Fontane fand noch zu Schulzeiten statt, und sie war alles andere als erfreulich – das unsägliche Beziehungs- und Sittendrama EFFI BRIEST raubte mir seinerzeit mit seiner unendlich langwierigen Erzählweise den letzten Nerv, und das zu einem Ausmaß, daß ich meinen damaligen Deutschlehrer stetig bedrängte, zukünftige Generationen diesbezüglich zu verschonen. Wie ich wesentlich später erfahren habe, hat er nicht auf mich gehört. Warum exakt ich mir also nun, 15 oder 16 Jahre später, ausgerechnet ein Werk von Fontane zugelegt habe, kann ich nicht sagen – ich könnte mich ja darauf hinausreden, daß ich Theodor Fontane mit Theodor Storm verwechsle – aber auch ohne genau definierbaren Grund ging die Anschaffung von Fontanes kurzer Kriminalgeschichte UNTERM BIRNBAUM ohne viel Aufhebens und Zögern vonstatten, und das Buch mußte keine Woche im Regal verbringen, bevor es von mir gelesen wurde.

Die Story, die offenbar lange Zeit als nebensächliches Werk in Fontanes Schaffen angesehen und erst später als hochwertiger Bestandteil seiner schriftstellerischen Tätigkeiten eingeordnet wurde, dreht sich um den Wirthausbesitzer und Krämer Abel Hradscheck, dem die Schulden über den Kopf hinauswachsen. Als er eines Tages beim Graben im Garten unter seinem Birnbaum die schon verweste Leiche eines französischen Soldaten findet, heckt er zusammen mit seiner Frau Ursel einen perfiden Plan aus, wie er sich seines Schuldeneintreibers und damit auch seiner finanziellen Verpflichtungen entledigen könnte …

UNTERM BIRNBAUM ist nicht in dem Sinne ein Krimi, wie man es heute erwarten würde: Der Mordfall wird über einen relativ langen Zeitraum hinweg recht vage konstruiert, und er kommt schließlich auch nicht ans Tageslicht, weil Hradschecks Täuschungen durch Ermittlungen aufgedeckt werden – sondern weil Schuldgefühl und Aberglaube das Ehepaar nach und nach ins Verderben führen. So gesehen wäre es auch falsch, von dieser Geschichte „Spannung“ zu erwarten – was immer man darunter versteht. Nein, Fontane ist mehr daran interessiert, das Prozedere in kleinen Teilchen mit fast genüßlicher erzählerischer Distanz zusammenzuführen und zu dem Punkt zu führen, wo entweder die menschliche Natur oder die Beschaffenheit der Welt wieder für Balance und Ordnung sorgen.

   „Und wenn er nun schuldig ist, wie du beinah glaubst oder wenigstens für möglich hältst? Ist dir eine solche Nachbarschaft nicht einigermaßen ängstlich?“
   Vowinkel lachte. „Man sieht, Eccelius, daß du kein Kriminalist bist. Schuld und Mut vertragen sich schlecht zusammen. Alle Schuld lähmt.“
   „Nicht immer.“
   „Nein, nicht immer. Aber doch meist. Und allemal da, wo das Gesetz schon über ihr ist.“

Genaugenommen ist die Mordgeschichte ohnehin nur Aufhänger für Fontane, um mit bissigen Spitzen die kleine Dorfgesellschaft zu demontieren: Die Dynamik der Ereignisse wird nur allzu oft dadurch erzeugt, daß im Dorf getrascht wird – Neid und Mißgunst sind an der Tagesordnung, die alte Nachbarin verbringt ihre Tage damit, voyeuristisch Hradschecks Tun und Lassen zu beobachten und zu kommentieren, und die sonstigen Bewohner drehen ihre vorschnellen Urteile über Schuld oder Unschuld so schnell um, wie es gerade opportun erscheint. Es ist ein bitterböses Porträt einer häßlichen Gemeinde, das Fontane hier zeichnet: In der Welt von UNTERM BIRNBAUM hat nicht nur der nach außen hin so joviale Wirt Hradscheck in Wahrheit ein bis zwei Leichen im Keller (oder im Garten).

Auch wenn Fontanes Erzählung nur 108 Seiten lang ist, braucht man doch etwas Zeit und Mühe, in die Geschichte einzusteigen: Die Sprache ist altmodisch und höchst verschachtelt, die Ereignisse werden mitunter nur angedeutet – und dazu kommt, daß einige Figuren in einem Dialekt reden, der teils nur mühsam zu entziffern ist (lautes Vorlesen der Passagen hilft teilweise, aber auch nicht immer). Den Aufwand ist es aber wert: UNTERM BIRNBAUM ist ein intelligentes Werk über die dunklen Seiten der menschlichen Natur. Das rückt meine Erinnerungen an EFFI BRIEST nicht in ein positiveres Licht – aber es weist darauf hin, daß eine weitere Beschäftigung mit Fontanes Schaffen eine sehr lohnenswerte Angelegenheit sein könnte.

 

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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