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VERRÜCKT NACH STEVE: Wie sich Sandra Bullock ihre Goldene Himbeere verdiente

Sandra Bullock in VERRÜCKT NACH STEVE

Sandra Bullock ging 2010 persönlich zu den Golden Raspberry Awards, um sich ihre „Goldene Himbeere“ für VERRÜCKT NACH STEVE abzuholen. Es traut sich sonst kaum jemand, diese öffentliche Demütigung anzunehmen – schon gar nicht bei der Verleihung. Paul Verhoeven war 1996 der erste, um sich die „Worst Director“- und „Worst Picture“-Trophäen für SHOWGIRLS abzuholen – die jährlichen „Razzies“ wurden da schon zum 16. Mal verliehen. Tom Green erschien für FREDDY GOT FINGERED, Halle Berry nahm ihre „Worst Actress“-Himbeere für CATWOMAN persönlich entgegen. Ansonsten? Fehlanzeige, abgesehen von ein paar Leuten, die ihre Quasi-Auszeichnung in Talkshows entgegennahmen oder ein Video aufzeichneten.

Bei ihrem Auftritt juxte Bullock, sie könnte ja jetzt Zeile für Zeile durch das Skript gehen, und wenn ihr jemand vormachen wolle, wie sie sie besser hätte aufsagen können, würde sie sich das gerne anhören. Außerdem brachte sie eine Wagenladung DVDs des Films mit, damit die Gäste sich den Film zuhause noch einmal (oder überhaupt erst einmal) ansehen könnten. „Thank you!“ jubelte jemand aus dem Publikum, und Bullock unkte: „Yeah, you say that now“. Sie versprach, falls die Jury nach (erneuter) Sichtung befinden sollte, sie wäre doch nicht die schlechteste Schauspielerin des Jahres, würde sie nächstes Jahr gerne wiederkommen und ihren Preis zurückgeben.

Das "schlimmste Paar" 2009: Sandra Bullock & Bradley Cooper
Goldene Himbeere für Sandra Bullock, Goldene Himbeere für das „Schlimmste Paar“ Bullock & Bradley Cooper.
Nominierungen gab es noch für die „Schlimmste Regie“, den „Schlimmsten Film“ und das „Schlimmste Skript“.

Wenn Bullock in VERRÜCKT NACH STEVE (Originaltitel: ALL ABOUT STEVE) nur halb so sympathisch wirken würde wie bei ihrem Auftritt, wäre schon einiges gewonnen. Tatsächlich sorgt der knuffige Charme, den Bullock als Person versprüht, dafür, daß man ihrer Figur überhaupt ein paar Minuten in den Film folgt – ungefähr 15 Minuten lang, bis man vor ihrer nervtötenden Art kapituliert und sie abwechselnd bemitleidet oder, wie zahlreiche andere Charaktere das tun, keine Sekunde länger aushalten will. Bei den meisten anderen Schauspielerinnen wären es wohl nur 10 Minuten gewesen. Und vielleicht ist Bullocks Darstellung in der Tat richtig gut: Der Film scheint seine Hauptfigur mit voller Absicht so absonderlich und irritierend zeichnen zu wollen.

Bullock spielt die alleinstehende Mary, die für eine regionale Zeitung Kreuzworträtsel entwirft. Sie hat ein enzyklopädisches Wissen über Wörter, aber kann kaum mit Menschen umgehen. Mary plappert Monologe vor sich hin, hat keine Freunde und lebt, nachdem ihr Apartment wegen Schädlingsbekämpfung begast werden muß, wieder bei ihren Eltern – und selbst die sehen sie meist eher mitleidig an. Um Mary unter Leute zu bringen, arrangieren die Eltern ein Blind Date mit dem TV-Kameramann Steve. Der nimmt schon nach wenigen Minuten panisch Reißaus vor der Verrückten, aber sie hat sich unsterblich verliebt und reist Steve quer durch das Land nach, um mit ihm zusammen sein zu können.

Sandra Bullock als Nervensäge Mary
Mary (Sandra Bullock) meint’s ein bißchen zu gut bei ihrem Date mit Steve.

Bis zum Date ist man gewillt, der merkwürdigen Mary zu folgen. Als sie sich dann aber noch vor Beginn des Dates im Auto wollüstig auf Steve stürzt und ihn mit einem Wortschwall wie in einem Bewußtseinsstrom eindeckt, versteht man, warum er (die ersten paar Sekunden noch von ihrer sexuellen Offenheit angetan) schnell das Weite sucht. Als sie am nächsten Tag ein Kreuzworträtsel nur mit Informationen über Steve gestaltet – Augenfarbe, Arbeit, Geruch des Autos: „All About Steve“ eben –, das für eine besonders kreative Idee hält und gar nicht verstehen kann, warum ihr Chef das gedruckte Irrsinnswerk für unprofessionell hält, ist man sich sicher, daß die Frau den Verstand verloren haben muß.

Sie verliert den Job und kann also nach Herzenslust Steve hinterherreisen, dessen ausweichende Art sie keinesfalls richtig versteht: Sie hält es für vorherbestimmt, daß sich die Dinge so fügen. Steves Kollege, der Nachrichtenreporter Hartman Hughes, macht sich einen Spaß daraus, sie in ihrer Hartnäckigkeit noch anzustacheln: Er nimmt sie beiseite und erklärt ihr, daß Steve nur Angst vor Gefühlen hätte und sie es deswegen ignorieren solle, falls Steve sie wegschickt. Immer wieder gibt er ihr Informationen, wo Steve als nächstes sein wird, oder lädt sie in Steves Namen ein – und Mary geht jedes Mal freudestrahlend darauf ein. Sie hält es sogar für ein positives Zeichen, als Steve im Auto an ihr vorbeifährt und aus dem Fenster ein Popcorneimer mit aufgekritzelter Nachricht geworfen wird, sie soll doch hinterherkommen.

Das Kreuzworträtsel über Marys Schwarm Steve.
Ein Kreuzworträtsel über Steve. Mary hält das für eine gute Idee.

Mary kann einem die meiste Zeit über richtig leidtun – aber nicht, weil sie so viel Pech hat, sondern weil sie ganz offensichtlich professionelle Hilfe benötigt. Ihr bizarres Auftreten, ihr eindringliches Starren und ihre Art, Menschen niederzutexten, ohne ihnen auch nur eine Sekunde lang zuzuhören, halten das Mitleid aber dann doch im Zaum: Man weiß instinktiv, daß man der Frau selber auch nur aus dem Weg gehen wollte. Lachen kann man über die Mißgeschicke von Mary jedenfalls so oder so nicht. Wie schon Roger Ebert in seinem Review schreibt: „It is not much fun to laugh at a crazy person. None, I would say.“

Auf dem Papier klingt das vielleicht auch noch nach einem interessanten Konzept, weil da vage das Potential durchschimmert, das VERRÜCKT NACH STEVE vielleicht geboten hätte: Vielleicht hätte es eine Geschichte werden sollen, die all die üblichen Eckpfeiler der romantischen Komödie genommen und demontiert hätte. Exzentrische Figuren, Mißverständnisse, als niedlich verkauftes obsessives Verhalten mit Stalker-Touch: Hier ist alles vorhanden, was an Romantic Comedies so gerne bemängelt wird. Aber Parodie oder gar eine Dekonstruktion ist dann offenbar doch nicht das, was Regisseur Phil Traill und Autorin Kim Barker (und Bullock selber, die den Film mitproduzierte!) im Visier hatten: Stattdessen wird am Schluss die Individualität von Mary gefeiert, während Steve etwas über seinen Umgang mit Menschen lernen muß! „Don’t ever change“, sagt er ihr in ihrer letzten Szene. Er will sie zwar immer noch nicht, aber erkennt nun ihre Einzigartigkeit an. Mal ehrlich: Wenn VERRÜCKT NACH STEVE ein Aufruf sein soll, unangepaßt zu bleiben, dann möchte man sich sofort einer Herde anschließen.

Einen Tag, nachdem sie die „Goldene Himbeere“ entgegennahm, gewann Sandra Bullock übrigens den Oscar für ihre Rolle in BLIND SIDE – DIE GROSSE CHANCE. Sie verteilte davon keine DVDs.

Mehr Sandra Bullock auf Wilsons Dachboden:
SPEED: Zwei Stunden Dauerthrill
GRAVITY – Der Trotz gegenüber dem Universum

 

Verrückt nach Steve (USA 2009)
Originaltitel: All About Steve
Regie: Phil Traill
Buch: Kim Baker
Kamera: Tim Suhrstedt
Musik: Christophe Beck
Darsteller: Sandra Bullock, Bradley Cooper, Thomas Haden Church, Ken Jeong, DJ Qualls, Howard Hesseman, Keith David, M.C. Gainey, Holmes Osborne

Alle Bilder stammen von der DVD (C) 2010 Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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