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GRAVITY – Der Trotz gegenüber dem Universum

Man könnte behaupten, daß der zu 99,9% im All spielende Streifen GRAVITY eigentlich gar kein Science-Fiction-Film ist. Vielmehr ist er die Geschichte eines Menschen, der eine schreckliche Katastrophe überlebt und dann, als er sich eigentlich schon aufgegeben hat, wieder die Kraft findet, weiterzukämpfen. Daß es sich bei der Katastrophe um die Zerstörung einer Forschungsstation im Weltraum handelt, ist gewissermaßen Nebensache – GRAVITY ist eine Allegorie über das Leben an sich, über die Hoffnung entgegen jeder Wahrscheinlichkeit.

Völlig nebensächlich ist das Setting von GRAVITY aber natürlich nicht. Die beiden Astronauten Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalski (George Clooney), die nach einem Hagel von Satellitentrümmern ihre Basisstation sowie den Funkkontakt zu Houston verlieren und frei durchs All schwebend nur wenig Aussichten auf Rettung haben, sehen sich durch ihre Lage mit auf die Spitze getriebenen existentialistischen Ängsten konfrontiert. Sie könnten haltlos durch den Raum stürzen, der Sauerstoff kann ihnen ausgehen, weitere Satellitentrümmer könnten sie in Sekundenbruchteilen wegfegen. „Im Weltall hört dich niemand schreien“, hieß es 1979 auf dem Plakat zu Ridley Scotts ALIEN. Was aber viel schlimmer wiegt: Selbst wenn einen jemand hören würde, könnte derjenige rein gar nichts tun, um einen zu retten.

So führt einem GRAVITY in jedem Moment vor Augen, wie abhängig der Mensch in derart lebensfeindlicher Umgebung von der Technik ist – und wie er von ihr eigentlich doch nur notdürftigst geschützt wird. Wir können diese Umgebung nur mit einer Reihe von Vehikeln beschreiten – einem Raumanzug, einem Shuttle, Raumstationen mit künstlichem Luftdruck, Landekapseln. Und weil der Weltraum so unnachgiebig kalt und leer ist, kann jedes Problem diese Hilfsmittel an ihre Grenzen bringen – ein Schema, das Regisseur Alfonso Cuarón immer wieder ausreizt: Stone und Kowalski müssen sich nicht durch eine einzige Problemsituation schlagen, sondern durch eine ganze Kette an Katastrophen.

Wer unter solchen Umständen arbeitet, muß gewissermaßen schon bei Dienstantritt mit dem Leben abgeschlossen haben – beziehungsweise mit der Tatsache Frieden gefunden haben, daß ein Menschenleben sehr kurz sein kann. Kowalski zeigt exakt diese Haltung und lebt damit umso präsenter: Lässig erzählt er Anekdoten aus seinem Leben, witzelt mit den Technikern in Houston und tritt Schwierigkeiten mit bewundernswerter Ruhe entgegen – selbst in fast auswegsloser Lage verschwendet er keine Energie darauf, sein Schicksal zu beklagen, sondern sucht nach Lösungen. Stone hat diese innere Gelassenheit noch nicht erlangt: Sie ist nach nur sechs Monaten Training gerade auf ihrer ersten Mission und muß im Angesicht der Katastrophe gegen ihre Panik und Verzweiflung ankämpfen.

Mit seiner Inszenierung bringt uns Cuarón alle Facetten dieses Überlebenskampfes im All so nahe wie nur möglich: Er geht mit der Kamera klaustrophobisch nahe an Bullocks Gesicht heran – die vor allem in einer Sequenz, wo sie sich damit arrangieren muß, daß sie jetzt wohl sterben wird, eine absolut packende Darbietung abliefert – und kriecht einmal quasi durch die Scheibe ihres Helms, um von ihrer Warte aus das unkontrollierbare Chaos der Katastrophe zu zeigen. In beeindruckend langen Einstellungen erleben wir die Hilflosigkeit der Astronauten ebenso wie ihre unnachgiebigen Versuche, doch noch Auswege zu finden. Unwillkürlich kommen einem die Raumszenen aus Kubricks 2001 in den Sinn, wo Shuttles in perfekt choreographierter Anmut an Stationen andocken und dazu der Donauwalzer erklingt – ein bizarres und doch passendes Gegenstück zu GRAVITY, der dieser ästhetischen Utopie einen schrecklichen (und dabei doch so grandios inszenierten) Realismus entgegensetzt. Wobei Cuarón die erhabene Schönheit des Alls gar nicht ignoriert: Die Bilder der Erde sind ebenso atemberaubend wie der Sonnenaufgang im All, von dem Kowalski meint, daß er den am meisten vermissen wird.

Ein wenig erwartet man bei aller Inszenierungsgewalt einen – quasi gemäß des Titels – gewichtigeren Unterton, eine weitreichendere Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Aber GRAVITY will nicht über die Menschheit philosophieren wie Kubricks 2001 oder Zukunftsbilder zeichnen wie BLADE RUNNER. Cuaróns Film ist ein $100 Mio. teures Kammerspiel, das sich darum dreht, wie der menschliche Geist immer wieder nach vorne schaut, wie er selbst in der völligen Hoffnungslosigkeit nie ganz aufgibt. Angesichts der Tatsache, daß der Mensch letztlich nur ein winziger Punkt in der öden Unendlichkeit von Zeit und Raum ist, ist das eigentlich ein sehr tröstlicher und zugleich trotziger Gedanke: Dem Universum mag es egal sein, ob wir weitermachen. Uns nicht.



Gravity (USA 2013)
Regie: Alfonso Cuarón
Buch: Alfonso Cuarón, Jonás Cuarón
Musik: Steven Price
Kamera: Emmanuel Lubezki
Darsteller: Sandra Bullock, George Clooney, Ed Harris (Stimme)
FSK: 12

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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