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DER TAUSENDFÜSSLER – CHRONOLOGIE EINER ZERSTÖRUNG: Der Schutt der Erinnerungen

„Hast du jemals etwas so bildschön zusammenkrachen sehen?“, fragt Anthony Quinn am Ende von ALEXIS ZORBAS, als die mühsam errichtete Lastenseilbahn auseinanderfällt. Man könnte den Satz auch an das Ende von Dia Westerteichers Experimental-Doku DER TAUSENDFÜSSLER – CHRONOLOGIE EINER ZERSTÖRUNG setzen: Hier wohnt man dem ästhetischen Abriß des Düsseldorfer „Tausendfüßlers“ bei.

Dabei handelt es sich nicht um die regionale Variante von Dr. Heiters Menschenkette aus THE HUMAN CENTIPEDE – nein, der „Tausendfüßler“ in Düsseldorf war eine Hochstraße, die wegen ihrer Y-Träger und der geschwungenen Straßenführung von den Bürgern diesen Spitznamen erhielt. Diese Straße wurde 1962 gebaut, um den Verkehr zu entlasten, und kam, wie uns der Vorspann des Films informiert, 1993 in die Liste der zu erhaltenden Baudenkmäler der Stadt. Pünktlich zum 50. Jubiläum wurde dann beschlossen, das Bauwerk niederzureißen. Am 24. Februar 2013 begannen die Bauarbeiten, am 16. April des Jahres war die Hochstraße Geschichte.

(Es sollte an dieser Stelle wohl darauf hingewiesen werden, daß Dia Westerteicher auch hinter dem Evil-Ed-Podcast steckt, den ich einige Folgen lang mitmoderiert habe. Aber wo steht geschrieben, daß man nur über Filme berichten darf, deren Macher man nicht kennt?)

Noch am Anfang der Abrißarbeiten: Der Asphalt wird aufgebrochen.

Was im wahren Leben knapp zwei Monate dauerte, wird in Westerteichers Film auf 30 Minuten komprimiert: Im Zeitraffer sehen wir zu, wie die Straße demoliert wird, ganz systematisch und zielstrebig, bis nur noch Schutt und Asche davon übrig ist. Die Bilder dazu lieferten die Webcams der Stadt, über die man die Baustelle beobachten konnte. Es waren ungefähr 4000 Bilder pro Tag, die da als Ausgangsmaterial zusammenkamen und für den Film gesichtet wurden.

Aus solch artifizieller Warte heraus wirkt so ein Abriß auf merkwürdige Weise unvermeidlich. In unaufgeregtem Tempo fressen sich die Bagger wie hungrige Tiere durch Beton und Stahl, bis alles abgeweidet ist. Tage und Nächte vergehen, manchmal regnet es in Kübeln, der Verkehr fließt in einem beständigen Strom neben der Baustelle weiter. Was mitten drin nach Schweiß und Staub aussähe, was angesichts der Größe des Unterfangens und der gigantischen Berge an Schutt wie ein chaotischer Albtraum wirken würde, gewinnt in der Zeitraffer-Beobachtung eine faszinierende Klarheit.

Übrig bleibt Geröll.

Das Spannende an DER TAUSENDFÜSSLER ist diese Reibung zwischen Form und Inhalt. Wir sehen einer Zerstörung zu, die Hochstraße verwandelt sich nach und nach in Geröll – aber wo man Baustellen sonst mit Lärm, Unbequemlichkeiten und Streitigkeiten um ihre Notwendigkeit verbindet, wird hier der Vorgang als beinahe natürlicher Lauf der Dinge präsentiert. Zu der manchmal fast meditativ entspannten Musik von Michael Engels wirkt die Riesenbaustelle ganz im Einklang mit dem Fortschreiten der Zeit.

Beim Ansehen klingt nebenbei eine interessante Fragestellung an: Wieso lösen Existenz oder Verschwinden eines Betonwerks bei den Menschen Gefühle aus? Anfangs sehen wir eine „letzte Begehung“ der Bürger Düsseldorfs, am Schluß baut der Film fast schnippisch die Straße im Ultra-Zeitraffer einfach wieder auf, indem alles nochmal rückwärts abläuft.

Düsseldorfer Bürger nehmen Abschied von der Hochstraße.

Vielleicht war der Ausgangsgedanke des Films nur, ein Zeitdokument der Veränderung einer Stadt einzufangen – aber unterschwellig zeigt er auch, daß Menschen mit einem Ort verbunden sein können, daß Eingriffe in die Beschaffenheit dieses Ortes ein wichtiges Thema sind. „Wenn mein Tausendfüßler abgerissen wird, muß ich natürlich dabei sein“, erklärte Westerteicher in einem Fernsehinterview.

Ich erinnere mich an das trübe Gefühl, als die alten Häuser der Salzburger Universität niedergerissen wurden, in denen ich studiert habe. Ja, es waren Bruchbuden, einst als Provisorien errichtete, häßliche Klötze, die viel zu lange standen. Aber es waren quasi auch meine Bruchbuden: Ich habe so viele Erinnerungen daran. Obwohl ich also nie in Düsseldorf war und keinen Bezug zu dem „Tausendfüßler“ habe, kann ich verstehen, warum Dia von „seinem Tausendfüßler“ redet.

DER TAUSENDFÜSSLER – CHRONOLOGIE EINER ZERSTÖRUNG fängt die Erinnerungen einer Stadt ein. Der Denkmalschutz hat die Straße nicht vor dem Abriß bewahrt – aber dafür hat sie mit Westerteichers Film ein filmisches Denkmal erhalten.

Der Tausendfüßler – Chronologie einer Zerstörung (Deutschland 2013)
Regie: Dia Westerteicher
Idee: Dia Westerteicher
Musik: Michael Engels

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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