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TRICKED: Ein Drehbuch als Open-Source-Projekt

Ein neuer Film von Paul Verhoeven? Schon gekauft! Sekunde aber: TRICKED (bzw. STEEKSPEL im niederländischen Original) ist kein absolut vollwertiger Spielfilm und schon gar kein neues Epos des Mannes, der in Holland provokante Werke wie TÜRKISCHE FRÜCHTE und BLACK BOOK drehte und dazwischen in Hollywood subversives Popcornkino wie ROBOCOP, STARSHIP TROOPERS und BASIC INSTINCT ablieferte. TRICKED ist gewissermaßen ein Experimentalfilm, dessen Experiment in der Entstehung liegt – und im knapp einstündigen Ergebnis wahlweise als langer Kurzfilm oder als sehr kurzer Spielfilm betrachtet werden kann.

Am Anfang stand ein vierseitiger Drehbuchbeginn von Autorin Kim van Kooten: Auf der Feier zum 50. Geburtstag des Familienvaters Remco taucht plötzlich dessen ehemalige Geliebte Nadja auf – hochschwanger im achten Monat. Aus dieser Prämisse wurde eine Art Talentwettbewerb geschmiedet, der den zahlreichen Gesangscastingshows nicht unähnlich scheint: Die Zuseher konnten Drehbücher und Videos einsenden, wie die Geschichte weitergehen würde – und so sollte TRICKED quasi in mehreren kurzen Episoden entstehen, die sich dann letzten Endes zur kompletten Geschichte verknüpfen würden.

In den Festivalversionen wie auch auf Blu-Ray und DVD wird dem Experiment die halbstündige Doku PAUL’S EXPERIENCE vorangestellt, in der Verhoeven nicht nur davon schwärmt, wie spannend es ist, sich auf ungewohnte Prozesse einzulassen, sondern auch von den Schwierigkeiten der Herangehensweise berichtet: Letztlich war keines der mehreren hundert Bücher, die eingeschickt wurden, wirklich durchgehend brauchbar – so daß Verhoeven selbst zusammen mit Co-Autor Robert Alberdingk Thijm aus den zahlreichen abgelieferten Ideen die brauchbaren Einzelstücke heraussiebte und selbst den Fortlauf der Geschichte bestimmte.

Angesichts der Entstehungsgeschichte ist das Überraschendste am Film zunächst die Beobachtung, wie wenig man ihm seinen Prozess letztlich anmerkt. In der Tat funktioniert TRICKED als thematische Tangente zu Verhoevens üblichen Themen – zum Beispiel dem Einsatz von Sexualität zur Machtgewinnung – so passend, daß man auch ein traditionelles und von vornherein durchkonzipiertes Skript hinter dem Film vermuten könnte und sich nur über die unübliche Länge wundern würde. Ganz gewiß verhalten sich alle Figuren so, wie man es von anderen Verhoeven-Streifen kennt: Sie werden durch sexuelle Begierden gesteuert, lügen und betrügen, üben sich in Machtspielen und manipulieren einander.

Die Geschichte ist dabei kein komplexes Schwergewicht, aber dennoch ein vergnügliches Spiel mit Überraschungen und interessant gezeichneten Figuren – deren verworrene Beziehungs- und Arbeitssituationen anderswo Stoff für banales Soap-Drama geliefert hätten, aber unter Verhoevens versierter Regie eine nachvollziehbare Authentizität entwickeln. So gesehen ist TRICKED eigentlich Verhoevens Rückkehr zu den Dramen seiner Anfangstage: Angesichts einer mit Bugs, Brüsten und Brutalität gefüllten Vita vergißt man bei aller Brillanz der bekannten Werke gerne mal, daß Paul anfangs hauptsächlich menschliche Beziehungen seziert hat. Selbst die Inszenierung schließt eine Klammer zu TÜRKISCHE FRÜCHTE: Auch TRICKED wurde vornehmlich mit Handkameras gedreht und ordnet die Inszenierung ganz dem Schauspiel unter.

Nur gelegentlich blitzt die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte durch: Etwa, wenn in den anfänglichen Minuten des Films die junge Tochter mitsamt ihrer sexuell recht freizügigen Freundin hemmungslos kokst, aber später beide nie mehr so gezeigt werden oder das Element Einfluß auf ihre Handlungen hätte. Ganz offenbar wurde die Idee zugunsten anderer Entwicklungen unter den Teppich gekehrt. Dennoch gelingt Verhoeven das Kunststück, alle Stränge und Entwicklungen zu einem organischen Abschluß zu bringen – angesichts der Tatsache, daß (wie er in der Doku erläutert) in manchen Entwürfen plötzlich die Mafia auftauchte oder die Figuren aus anderen Gründen dahingemeuchelt wurden, zeugt die Entscheidung, die narrative Gestaltung nicht ganz aus der Hand zu geben, dann doch von der gesunden Erfahrung eines langjährigen Geschichtenerzählers.

Als Film ist TRICKED somit ein sehenswertes, wenn auch nicht wahnsinnig wichtiges neues Werk eines Filmschaffenden, der in den letzten Jahren viel zu selten Gelegenheit hatte, neue Geschichten zu inszenieren. Als filmisches Experiment wirft die Angelegenheit einige durchaus interessante Fragen auf: Wie wichtig ist die Vision einer übergeordneten Erzählstimme (sei es der Regisseur, ein Autor oder ein geschlossenes Autorenteam) für die Entstehung von befriedigend erzählten Geschichten? Wie weit können kreative Prozesse im Schwarm angepackt werden? Welche Probleme tun sich auf, wenn es plötzlich hunderte von Autoren gibt, und welche Vorteile können sich ergeben? Können kreative Prozesse überhaupt wie technische angegangen werden – kann also ein Drehbuch wie eine OpenSource-Software vom Input möglichst vieler Beteiligter profitieren, um bessere Lösungen zu finden?

Meine eigenen Antworten auf diese Fragen scheinen sich mit Pauls angedeuteten Erfahrungen in der Doku zu decken: Ja, eine übergeordnete Stimme ist ungemein wichtig – immerhin läßt man sich bei einem Kunstwerk (ich verwende den Begriff in dem Sinne, daß jeder Film als kreatives Objekt betrachtet wird) auf die Ideen des Künstlers ein; dieser „Erzähler“ erlaubt mit seinem Werk einen Blick auf die Welt, der uns quasi mit anderen Augen sehen läßt. Eine Massenentscheidung über kreative Prozesse kann eigentlich nur in Anhäufungen von Klischées enden (weil Personen ohne die erzählerische Übung zunächst in altbekannten Stereotypen denken – so wie z.B. die meisten Nicht-Autoren einen Krimi mit einem Mord oder einer Polizeiermittlung anfangen lassen würden) oder aber in einer Verwässerung der einzigartigen Ideen, die auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert werden. Kunst ist eben kein Prozeß mit klar definiertem Ziel, weshalb er auch nicht im Sinne eines Computerprogramms optimiert werden kann.

Aber vielleicht zeigen findige und ungewöhnliche Künstler uns eines Tages ja doch noch, wie so ein Crowd-Ansatz kreativ genutzt werden kann. Bis dahin darf man TRICKED beinahe als positiv gescheitertes Experiment ansehen: Letzten Endes scheint sich Verhoeven mit dem Ansatz ja nur mehr Arbeit aufgehalst zu haben, und der unbefriedigende Input hat ihn dazu gebracht, doch wieder nach klassischerer Art die Geschichte weiterzuführen bzw. zu beenden. So oder so ist es großartig und inspirierend, daß sich ein über 70-jähriger Regisseur ins kreative Neuland begibt – und das Resultat wäre auch ohne den modernen Ansatz ein Gewinn für uns.

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Tricked (Niederlande 2012)
Originaltitel: Steekspel
Regie: Paul Verhoeven
Buch: Kim van Kooten, Robert Alberdingk Thijm, Paul Verhoeven & 397 Wettbewerbsteilnehmer
Kamera: Lennert Hillege
Musik: Fons Merkies
Darsteller: Peter Blok, Jochum Ten Haaf, Sallie Harmsen, Robert de Hoog, Gaite Jansen, Ricky Koole, Carolien Spoor, Pieter Tiddens
FSK: 12

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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