THE SIMPLE LIFE: Vom Unterschied zwischen Reality und Wirklichkeit

TV / 7. August 2012

Tja, liebe Freunde, so gern es mir leid tut – aber da müssen wir jetzt durch. THE SIMPLE LIFE hieß die sagenhaft beknackte Reality-TV-Show, in der die sinnlose Hotelerbin Paris Hilton mit ihrer nicht minder nur für das Berühmtsein berühmten Freundin Nicole Richie, Tochter des Commodores-Crooners Lionel Richie, für 30 Tage ihren Luxus hinter sich ließ und sich dem einfachen Leben auf der Farm widmete. Keine Kreditkarten, keine Handys – dafür harte Arbeit und Familiendasein. Man hat ja schon mit den Augen gerollt, wenn man nur davon gehört hat.

Und natürlich zerriß sich die Welt die Mäuler darüber, wie sehr doch die Show bestätigte, daß Hilton und Richie genauso dumm seien, wie jedermann eh schon wußte. Die können ja nicht mal einen Tag lang im Burgerschuppen arbeiten! Und dann fragen sie ihre Gastgeber auch noch, was denn ein Wal-Mart sei – Beweis genug, wie realitätsentrückt die Gören doch sind, wenn sie eine der größten Supermarktketten Amerikas nicht mal vom Namen her kennen. Ohne jetzt behaupten zu wollen, daß die beiden Mädels in Wahrheit an ihrer Doktorarbeit im Bereich Atomphysik schreiben: Da sind eine Menge Leute dem Reality-Konzept gehörig auf den Leim gegangen.

Mittlerweile hat es sich zumindest teilweise ja schon herumgesprochen, daß Reality-TV mit der Wirklichkeit so viel zu tun hat wie Günter Grass mit Groschenheften: Rein gar nichts. Alleine die Inszenierung (oh ja, Inszenierung) von THE SIMPLE LIFE spricht Bände über die angebliche Echtheit der Vorgänge: Wenn ein Mann an eine offene Tür klopft, suchend im Haus herumschaut und dabei fragt: „Ist da jemand?“, während die Kamera im Haus, mitten im Raum postiert ist, dann müßte doch eigentlich jedem Einfaltspinsel aufgehen, daß es da nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Alle wichtigen Handlungselemente sind freilich auch stets von mehreren Kameras eingefangen, weswegen auf jede Aktion der Mädels auch mit schönster Regelmäßigkeit wahlweise mitleidige oder mißbilligende Blicke der anderen Personen im Close-Up gezeigt werden können. Natürlich wird alles mit großartig suggestiver Musik untermalt – vorzugsweise so ein Hillbilly-Banjo-Gedudel, damit wir auch wissen, daß wir uns im tiefsten Südstaaten-Hinterland befinden – und obendrauf wurde eine Erzählstimme geklebt, dessen Sprecher den Southern Drawl auskostet wie Onkel Billy Joe Bob beim Geschichtenerzählen am Kindergeburtstag.

Viel entlarvender ist aber natürlich die Tatsache, wie konstruiert schlichtweg jede Episode ist. Da werden die Mädels zum Beispiel gleich zu Beginn nicht vom Flughafen abgeholt, sondern finden einen Pick-Up-Truck mitsamt Schlüssel und Wegbeschreibung vor, damit wir gleich sehen können, wie ungeschickt die Luxusgören mit so einem alten Gefährt mit Gangschaltung umgehen (Paris würgt gleich den Motor ab und parkt den Wagen auf dem Gras, weil sie keinen Rückwärtsgang findet). Na sicher! Ein paar Folgen später backen sie einen Kuchen für ein Dorffest, aber weil ihr Auto qualmt, legen sie diese Kuchen auf die Wiese vor dem Haus, bevor sie zum Telefonieren hineingehen – und wenige Minuten später wundern sie sich dann natürlich, warum die Kuchen vom Hund gefressen wurden.

Das ist so klar gescriptet, daß es schon erstaunlich ist, wie sehr es doch so viele Leute für echt – oder zumindest halbwegs echt – gehalten haben. Die Comedy hier funktioniert stets so, daß der Zuseher genau das bestätigt kriegt, was er vorab schon „weiß“: Die reichen Luxusgirls können keinen Handschlag selber arbeiten, sind verwöhnt, brauchen viel zu lange im Badezimmer und ziehen sich für jede Arbeit und jedes Event Klamotten an, die den meisten Bordsteinschwalben zu gewagt wären. Die Episoden müssen natürlich so konstruiert sein – weil ansonsten rein gar nichts passieren würde. Da bandelt Paris irgendwann mit einem Jungen aus der Stadt an (oh ja, es entwickeln sich intime Momente direkt vor der Reality-Kamera – na sicher!), und die Gastfamilie ist in großer Sorge und verhängt Ausgehverbote. Warum genau? Weil es sonst keinen Konflikt geben würde, wenn nicht Papa und Mama der Gastfamilie so tun würden, als wären sie Erziehungsberechtigte für diese beiden Frauen Anfang 20. Und so wird eben beständig eines der ältesten Komödienprinzipien der Welt bedient: Großstadtgrünling kommt mit dem Landleben nicht klar. Ach ja, und: Reiche Leute haben keine Ahnung vom Leben der einfachen Bevölkerung.

Halten wir also fest, daß „Reality“ keinen Grad an Authentizität bezeichnet, sondern nur für eine bestimmte Ästhetik steht – ein Inszenierungsstil, in dem mit dokumentarisch herumgeschwenkten Kameras im Reportagenstil eine Geschichte erzählt wird. (Das ist ähnlich wie bei „Indie-Rock“, der mit „Independent“ im Sinne der Unabhängigkeit auch nichts zu tun hat – der Begriff bezeichnet nur einen bestimmten Stil.) Also schauen wir mal, was so in den einzelnen aufregenden Folgen passiert:

#1: Ro-Day-O vs. Ro-Dee-O. Vor ihrem Ausflug ins tiefste Arkansas gehen Paris und Nicole nochmal gehörig shoppen und kaufen nutzlosen Krempel für mehrere tausend Dollalala. Dann fliegen sie los (der Butler von Paris muß nochmal nachhaken, damit die Mädels tatsächlich beide Handys abgeben) und geraten über den Umweg des abgestellten Pick-Up-Trucks (siehe oben – und ich grüble dauernd, ob die Gastfamilie den Truck extra zum Flughafen gefahren hat und dann per Taxi nach Hause gekommen ist!) auf die Farm der Familie Leding. Sie gehen einkaufen und schaffen es dabei nicht, sich an ihr Limit von $50 zu halten. Am Abend kämpfen sie mit Insekten in ihrem Zimmer (die mit lautstarkem „Iiiiiiiiih“ und panischem Herumlaufen kommentiert werden), während die Gastfamilie Zecken im Bett und ein Wasserloch mitten im Zimmer völlig normal findet.

#2: Dairy Farmin‘ Divas. Die Mädels arbeiten einen Tag lang in einer Molkerei, wo sie sich um die Kühe kümmern und dann die Milch in Flaschen abfüllen müssen. Für jede ihnen gestellte Aufgabe sind sie zu doof. Nach einigen Stunden Arbeit genießen sie eine Pause im Whirlpool hinter dem Haus, woraufhin sich ihr Arbeitgeber flugs von ihren trennt. Die Mädels jammern, daß sie noch nie so hart in ihrem Leben gearbeitet haben.

#3: Sonic Burger Shenanigans. Paris und Nicole besuchen einen Kreis alter Damen, die an einem Quilt arbeiten. Nicole beschwert sich, daß das Design langweilig ist, und schlägt den Frauen vor, doch ein paar Brandlöcher in den Quilt zu machen. Wenig später fangen die Mädels ihren zweiten Job an: Aushilfen in einem Burgerladen. Sie kommen 45 Minuten zu spät. Für jede ihnen gestellte Aufgabe sind sie zu doof. Weil ihnen langweilig ist, blödeln sie bei der Arbeit herum und schreiben „Half Price Anal Salty Weiner Bugers“ auf das Schild an der Straße, worüber die Manager nicht lachen kann. Die beiden Mädels werden gefeuert und schleichen sich nachts aus dem Haus in einen Club, obwohl der gestrenge Familienvater eine Ausgehsperre nach Mitternacht verhängt hat.

#4: The One about the Rumors. Die Bürgermeisterin der Stadt macht sich Sorgen, daß sich Paris und Nicole nicht so richtig in das Dorfleben integrieren. Deswegen lädt sie die beiden ein, am bevorstehenden Stadtfest mitzuwirken. Das Schicksal der dafür gebackenen Kuchen wurde oben schon beschrieben, ebenso wie das Outfit, das vor allem Paris zu diesem Event anzieht. Die Mädels betreiben beim Fest einen „kissing booth“, wo man sich für einen Dollar einen Kuß abholen kann, und blödeln dabei ausgiebigst herum.

 #5: Shopaholics. Paris und Nicole bekommen einen neuen Job bei einer Viehauktion, wo sie sich erneut um Kühe kümmern müssen. Sie kommen 70 Minuten zu spät. Für jede ihnen gestellte Aufgabe sind sie zu doof. Sie verteilen Glitter auf die Kühe und werden dann losgeschickt, Viehfutter zu kaufen. Beim Shoppen kaufen sie nebenher für knapp $200 Unfug zu Lasten der Kreditkarte ihres Chefs – darunter ein Vogelhäuschen, das sie ihrer Gastmutter Janet zum Muttertag schenken.

#6: Boy Crazy. Die Mädels arbeiten an einer Tankstelle. Es ist durchaus möglich, daß sie für jede ihnen gestellte Aufgabe zu doof sind, aber ganz sicher kann man sich da nicht sein, weil sie die meiste Arbeitszeit damit verbringen, mit Jungs zu flirten. Beide lachen sich fesche Kerle an und schmusen beim Fortgehen ein wenig mit denen herum – was die Gastfamilie erzürnt, weil in der Stadt schlecht über die Mädels und somit auch über die Familie Leding geredet wird. Paris und Nicole halten sich aber nicht an das Ausgehverbot. In einer Bar kriegt Nicole einen Schreianfall, als sie ihre Handtasche nicht findet, und kippt Bleichmittel über den Billiardtisch.

#7: Good-bye and Good Luck. Nicole entschuldigt sich bei der Besitzerin der Bar wegen des ruinierten Billiardtischs. Ansonsten gibt es viele Umarmungen und herzliche Verabschiedungen, obwohl die Mädels in jeder Folge zuvor ihre Unterkunft schlimm fanden, die Arbeit eklig und die Leute nervig. Paris verkündet, daß sie sich zuhause gleich als Erstes stundenlang an ihr Handy werfen wird, weil ihr das am meisten abgegangen ist. Familienpapa Albert Leding hofft, den Mädels einige wichtige Lebenslektionen mit auf den Weg gegeben zu haben.

#8: The Lost Episode. Nachdem die Einschaltquoten so gigantisch waren, schob der Sender noch eine Episode mit weiterem Material aus den vergangenen 30 Tagen hinterher: Nicole weiß nicht, was ein Waschsalon ist, aber Paris erklärt ihr, daß sie sowas schon gesehen hat, als Josh Hartnett in 40 DAYS AND 40 NIGHTS einen aufgesucht hat. Dann fegt ein Tornado über das Haus hinweg, und Nicole ist enttäuscht, daß keine Kühe durch die Luft fliegen. Die Mädels kriegen einen Job bei einem Tierpräparator. Für jede ihnen gestellte Aufgabe sind sie zu doof. Einem ausgetopften Bären tragen sie Make-up auf. Weil Paris Heimweh hat, schickt ihr ihre Mama aus Los Angeles ein großes Freßpaket mit Fastfood.

#9: The Simple Life Reunion. Dieses 45-Minuten-Special wurde neun Monate nach der Show aufgezeichnet – darin treffen Paris und Nicole in einem Talkshow-Setting auf die Leding-Familie und andere Einwohner des Dorfes wieder. Alle Beteiligten äußern sich in sympathischen und höchst unergiebigen Sätzchen. Amerika liebt Paris und Nicole (behauptet die Moderatorin). Paris und Nicole lieben alle Menschen, mit denen sie in Arkansas zu tun hatten (behaupten die Mädels). Papa Leding spricht immer noch von Lebenslektionen. Das Studio wurde geschmackssicher mit Sofas ausgestattet, die teilweise aus Heuballen zusammengebaut sind. An einer Stelle schwärmt Paris in schamlosestem Product Placement, wieviel Spaß das Einkaufen bei Wal-Mart doch macht, weil man da wirklich alles kriegt.

Wir sehen anhand der spannenden Ereignisse der Show: Das ist TV-Trash allererster Kajüte. Und weil alles auch handlungsmäßig so offensichtlich manipuliert ist – ansonsten gäbe es nichts zu erzählen! – betrachten wir das Ganze abschließend mal als Geschichte und nicht als Wirklichkeit.

Ist THE SIMPLE LIFE also eine sehenswerte Geschichte? Nein. Und das hat nichts damit zu tun, daß Paris und Nicole dumm sind oder als oberflächliche Tussen durch das Geschehen stapfen – sondern damit, daß die Sendung so sehr auf den offensichtlichsten Witz abzielt und immer nur wieder die Zuseherhaltung bestätigt, daß nicht ein einziger überraschender Moment übrigbleibt. Jede Minute ist quasi eine Variation eines Blondinenwitzes, und freilich beweist vor allem Ms. Hilton damit enormen Geschäftssinn – ganz offensichtlich wollen die Leute sie als unmöglich doofes Huhn sehen, und ob sie es ist oder nur spielt, ist hier völlig nebensächlich. Aber wenn schon Comedy nach dem steinalten Prinzip „Reiche Menschen aus der Stadt sind mit richtiger Arbeit auf dem Land überfordert“ bzw. „Blonde Tussen sind zu doof für die Welt“, warum dann nicht einige Wendungen einbauen? Warum nicht die Mädels erst an den Aufgaben scheitern lassen, sie aber dann mit eigener Logik gewisse Vorgänge ad absurdum führen lassen? Warum kann nicht irgendwo eine Entwicklung stattfinden, in der die Mädels mit ungewöhnlichen Mitteln die Herausforderungen knacken, oder wenigstens nicht nur deshalb an ihnen scheitern, weil sie sich dumm, ignorant und kindisch aufführen?

Die Antwort ist ganz einfach: Weil es dann kein Mensch mehr für eine Reality-TV-Serie gehalten hätte.

 







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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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