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FLIGHT: Ein gewöhnlicher Tag

Normalerweise verrät einem die Werbung alles, was man über einen Film wissen muss – und gerne mal noch mehr. Im Falle von FLIGHT ist die Informationslage mal umgekehrt: Da verhindert ein Pilot mit einem waghalsigen Manöver den sicheren Absturz seiner Maschine und rettet damit viele Menschenleben. Im Zuge der Untersuchungen des Unglücks gerät der heldenhafte Captain William „Whip“ Whittaker dann aber in Schwierigkeiten. Der Text auf dem Backcover der BluRay drückt sich da sehr vage aus: „Whip hat etwas zu verbergen“, heißt es da, und von einer „schmerzhaften Wahrheit“ ist die Rede. Der Trailer geht nur einen Schritt weiter: Nachdem er sich ausführlich auf den dramatischen Beinahe-Absturz konzentriert hat, ist von einem Bluttest die Rede – und Whittaker ist aus dem Off mit dem Satz „Ich habe am Abend vor dem Flug einen Drink zu mir genommen“ zu hören. Natürlich hat das Herumtänzeln um das Thema des Films die Absicht, die Zuschauer nicht im Vornherein abzuschrecken und das Drama mehr als Katastrophen- und etwaigen Gerichtsthriller zu verkaufen – aber auf gewisse Weise wirkt es, als hätte die Werbung dasselbe Problem wie Captain Whittaker selber: Der will sich partout nicht eingestehen, dass er ein ganz schwerer Alkoholiker ist.

Der Film selber macht das von vornherein klar. Whittaker liegt zu Beginn verkatert im Bett, die Nacht hat er mit einer Stewardess durchgemacht. Mit etwas Koks pusht er sich wieder hoch, um seinen Job antreten zu können, während des Flugs kippt er heimlich Wodka in seinen Orangensaft. Die kommentarlosen Blicke seines Co-Piloten und der Flugbegleiterinnen sprechen Bände: So routiniert Whittaker auch alles zu kaschieren versucht, so sehr wissen doch alle anderen Bescheid. In einer pointierten späteren Szene, in der er sein Problem einmal mehr herabspielt, wird er darauf beharren, es sei ein „gewöhnlicher Tag“ gewesen.

Während der Katastrophe zeigt sich der erfahrene Pilot: Whittaker reagiert kontrolliert und blitzschnell, hat die Maschine souverän im Griff und kann nebenbei seinen nervösen Co-Piloten instruieren und der Stewardess die Gelegenheit geben, ihrem Sohn ein „I love you“ für die Blackbox zu sprechen. Die Maschine notlandet auf einem Feld, von 102 Menschen an Bord überleben 96 – und wie man Whittaker später erklärt, konnte kein anderer Pilot in der Simulation die Maschine auch nur ansatzweise retten. Im Krankenhaus wird ihm nach dem Unglück aber Blut abgenommen, das einen Alkoholpegel von 2,4 Promille zeigt, und in einer bald anstehenden Anhörung dürfte sein Alkoholismus ans Tageslicht kommen, weshalb ein alter Kollege und ein hinzugezogener Anwalt  versuchen, Whip zu schützen: Der Bluttest soll verschwinden, Whittaker soll sich in den Griff kriegen. Daheim kippt er Unmengen an Alkohol in den Ausguss und beginnt ein neues Leben. Am nächsten Tag kauft er wieder ein.

FLIGHT ist ein ganz ungewöhnlicher Hollywoodfilm: Die atemlose Action der Flugzeugkatastrophe passiert gleich zu Beginn, danach konzentriert sich der Film auf Whittakers Kampf mit sich selber. Dass Effektzauberer Robert Zemeckis das Drama inszeniert hat, macht bei genauerem Hinsehen durchaus Sinn: Oft genug erzählt Zemeckis von Einzelgängern und besonderen Menschen, ob es Forrest Gump ist oder der Seiltänzer Philippe Petit (THE WALK) – und immer wieder zwingen außergewöhnliche Umstände seine Protagonisten, sich mit sich selber auseinanderzusetzen, wie in CONTACT, der sich im Kern um den Glauben seiner Protagonistin dreht, oder wie in seiner Robinsonade CAST AWAY. Dort zwang ein Flugzeugabsturz seinen Protagonisten in die jahrelange Isolation, in FLIGHT macht ein Flugzeugunglück die jahrelange Isolation der Hauptfigur sichtbar.

Whittaker (Denzel Washington) und Nicole (Kelly Reilly) suchen Halt beieinander.

Denzel Washington ist brillant in der Rolle, und die Tatsache, dass ausgerechnet er Captain Whittaker spielt, vertieft sie nur: Es ist, als würden all die aufrechten, klugen, würdevollen Menschen, die Washington sonst spielt, das vergeudete Potential dieses alkoholkranken Piloten nur noch unterstreichen. Es schmerzt, ihn im Dämmerzustand zu sehen, wie er lallend auf der Couch sitzt und beim Aufstehen zu Boden fällt, wie sich der dauerhafte Kater auf seinem Gesicht abzeichnet, wie er sich immer wieder selber belügt. „Ich kann alleine aufhören“, sagt er recht früh im Film, und wir würden es wie bei jedem Süchtigen gerne glauben. Umgeben ist Washington von einem fantastischen Ensemble, aus dem vor allem die Britin Kelly Reilly hervorsticht: Sie spielt Nicole, eine Drogenabhängige, die Whittaker zufällig im Krankenhaus kennenlernt. Ihre Überdosis passiert zum selben Zeitpunkt, als er die Maschine notlandet, aber während für sie der Beinahe-Tod der Tiefpunkt war, nach dem sie sich daran macht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen und ins AA-Selbsthilfeprogramm zu gehen, ist er für Whittaker – vielleicht wegen seines heldenhaften Rettungsmanövers – noch längst nicht Anlass, ehrlich mit sich selber zu sein. Nicole und Whip gehen für kurze Zeit in einer sehr komplexen Beziehung aus Anziehung, Freundschaft und Fluchtphantasien gemeinsam durchs Leben, und Reillys Blicke, wenn sie Whittaker ansieht, erzählen unglaublich viel über all das, was sich da vermischt.

Interessant ist, wie man als Zuseher durch die Erzählung geleitet wird, bzw. welche Reaktionen der Fortlauf der Handlung anregt. Beinahe alles ist aus Sicht von Whittaker erzählt, wir bleiben also dicht an ihm und seinem Problem – und so sind wir stets eingeladen, zu hoffen, dass er sich in den Griff kriegt oder seine Sucht zugibt, und gleichzeitig von ihm enttäuscht zu sein, wenn er wieder nachgibt; wir suchen nach Gründen und versuchen, aufrichtige Momente zu erkennen, die unsere Geduld mit ihm wieder rechtfertigen. Gleichzeitig hoffen wir beinahe, dass er der Strafe oder der Bloßstellung durch die Anhörung entkommt – vielleicht, weil es ein Film-Mechanismus ist, die Ziele seiner Hauptfigur zu verfolgen, aber vielleicht auch, weil wir genug vom Menschen Whittaker sehen, dass wir ihm keine Bestrafung, sondern Hilfe wünschen.

In diesem Zwiespalt funktioniert auch eine späte Szene mit einem Drogendealer, in der der Film in einem irritierenden Tonfall Whittaker beinahe triumphal zur Höchstform auflaufen lässt, als sollten wir sein Funktionieren in der Sucht feiern – aber letztlich schaffen es Zemeckis und sein Autor John Gatins, die Geschichte zu einem konsequenten, ehrlichen und dennoch hoffnungsvollen Ende zu bringen. In der letzten Szene des Films wird Whittaker gefragt, wer er ist, und vielleicht ist es das erste Mal in seinem Leben, dass er sich darüber tatsächlich Gedanken machen kann.

 

Flight (USA 2012)
Regie: Robert Zemeckis
Buch: John Gatins
Musik: Alan Silvestri
Kamera: Don Burgess
Darsteller: Denzel Washington, Kelly Reilly, Don Cheadle, Bruce Greenwood, John Goodman, Brian Geraghty, Tamara Tunie, James Badge Dale, Melissa Leo

Coverbild: © 2012 – Paramount Pictures
Bild im Text: Robert Zuckerman. © 2012 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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