Sweet Movies 3: Ein Kuschelkino-Festival zwischen Lust und Leid

Film / Kuschelkino / 25. März 2019

Die Jungfräulichkeit verliert man nur einmal im Leben – und so darf man seinem zweiten Porno-Festival auch wesentlich abgeklärter gegenübertreten wie noch dem ersten (ich berichtete). Wobei das Vergnügen im Vorfeld freilich bleibt, die Reaktionen der Personen zu beobachten, denen man von seinen anstehenden Reisen berichtet. Ein Kuschelkino-Festival, wie, was? „Wer geht denn da hin?“, wird man da manchmal verwundert gefragt (die einzig richtige Antwort darauf lautet natürlich: „Wer nicht?“). Der Anlass zum Besuch des diesjährigen „Sweet Movies“-Festivals im Nürnberger KommKino ist aber genauso gut wie jener des Vorjahres: 2018 durfte ich dank der Doku, an der ich arbeite (FINDING PLANET PORNO, über Regisseur Howard Ziehm), einen Vortrag zu dem gezeigten Ziehm-Streifen FLESH GORDON halten, dieses Jahr galten meine einführenden Worte seinem legendären Werk MONA THE VIRGIN NYMPH – immerhin der erste einschlägige Film, der in den Staaten einen Kinovertrieb erhielt, zwei Jahre vor DEEP THROAT. „Die lang erwartete Brücke zwischen den Porno-Kurzfilmen und herkömmlichen Kinoproduktionen“, nannte das Branchenblatt Variety den Streifen damals.

Das alte Mädchen Mona, das immerhin schon 49 Jahre auf dem Buckel hat, wurde leider nicht in voller Pracht gezeigt: Die 16mm-Kopie, die das Werkstattkino anlieferte, war eine Schwarz-Weiß-Kopie des ansonsten in hübsch bunten Farben gehaltenen Pionierfilms. Vermutlich wurde sie seinerzeit aus Kostengründen in Schwarz-Weiß gezogen (das Filmmaterial war weit billiger). Der Film – eine ganz eigenwillige Mischung aus Tabubrüchen, unschuldiger Spielerei und psychedelischem Musikeinsatz – funktionierte ohne Farbe überraschend gut, aber die volle Pracht entfaltet Ziehms Kampf gegen die amerikanische Prüderie dann doch nur, wenn seine fast surreal gigantischen Close-Ups von weiblichen Geschlechtsorganen auch in den richtigen Fleischfarben die Leinwand ausfüllen. Und natürlich: die schönen Blumen, die in der Anfangssequenz so verlockend blühen.

Zugegeben: Mit dem Einstieg ins Festival tat ich mich weit schwerer als letztes Jahr, wo der unbekümmerte Überklassiker DEEP THROAT den keinesfalls schnitzlerisch angehauchten Reigen eröffnete. Nicht, dass der diesjährige Auftakt kein Klassiker wäre: Radley Metzgers THE OPENING OF MISTY BEETHOVEN räkelte sich auf der Leinwand. Leider kann ich dem Film rein gar nichts abgewinnen: Der Streifen hat einen derart herablassenden und vom Sex gelangweilten Tonfall, dass die unermüdlichen Begegnungen ein zähes Prozedere ergeben. Jamie Gillis darf mit arrogantem Tonfall eine in Paris aufgegabelte Prostituierte (die liebreizende Constance Money) trainieren, dass sie einen Sex-Wettbewerb gewinnt, und so besteht der Großteil des Films nur aus mühsamem Leistungsansporn und der ständigen Beurteilung der Sexualität. Die Witze des Films versuchen, aus der Omnipräsenz der Erotik eine Art absurde Alltäglichkeit zu spinnen (bei der Buchung eines Fluges wird nicht nur gefragt, ob man im Raucherabteil sitzen will, sondern auch, ob man während der Reise Sex möchte und ob man lieber Oralsex geben oder empfangen möchte) – aber es hat den Effekt, dass zu aller freudlosen Diensthaftigkeit der Sexualität auch noch eine Müdigkeit hinzukommt: Hier gibt es nichts Aufregendes zu entdecken, die Lust wird zur Mechanik.

Der zweite Film am Freitagabend half auch nicht: THE TIFFANY MINX von Roberta Findlay. Da wird das handelsübliche Besteigungsopus mit einer Art Krimithriller verwoben: Eine reiche Frau ist nach einer Vergewaltigung, nach der sie ihren Angreifer mit der Schere umgebracht hat, dezent traumatisiert – und es stellt sich heraus, dass nicht jede Person in ihrem Umfeld allerbeste Absichten hat. Mit dabei ist unter anderem Robert Kerman alias „R. Bolla“, der schon beim letzten „Sweet Movies“-Festival mit NAKED SCENTS vertreten war und hier so aussieht, als hätte er seine Mitwirkung im Italo-Innereienspektakel CANNIBAL HOLOCAUST noch nicht ganz – Achtung: – verdaut. Leider sind brutale Einbrecher ja eher ab- als anregend, und auch im weiteren Verlauf hat der Sex eine eher grobe, nun ja, Stoßrichtung, die wenig Lust auf die Lust macht.

Dafür ging’s am nächsten Tag mit einem Klassiker weiter, für den man nicht gar so erwachsen sein muß: EIS AM STIEL, das Original von 1978. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer gebildeten Filminteressierten vor einigen Jahren, die an einer Studienarbeit über den israelischen Film saß – aber als dann EIS AM STIEL der einzige israelische Film war, der mir einfiel, ging es bergab mit unserem dann doch sehr kurzen Plausch. Dabei muss man auf den ersten EIS AM STIEL gar nicht so herabblicken wie auf die vielen Fortsetzungen: Hier steckt noch ein ernsthaftes, vielleicht ein wenig von AMERICAN GRAFFITI inspiriertes Jugenddrama dahinter, das durchaus sensibel eine wehmütige Dreiecksgeschichte erzählt und nur wenig vom Klamauk späterer Teile geprägt ist. Nur teilweise scheint die Sexkomödie durch, die dann in den Fortsetzungen stärker nach vorne rückte – zum Beispiel, wenn die Jungs in der Sportumkleidekabine brav aufgereiht zur Wette die Länge ihrer Männlichkeit messen (sollten derartige Wettbewerbe an meiner Schule auch stattgefunden haben, habe ich etwaige Siegeszeremonien wohl verdrängt).

Der nächste Film hatte ein Problem, das sich tatsächlich als Segen entpuppte: Der erste Akt von AFRICA LOVE, also die erste Filmrolle, war nicht aufzufinden. Bei jedem anderen Streifen wäre es verwegen, die ersten 20 Minuten einfach mal wegzulassen, aber hier war es vielleicht ein heimlich agierender Philanthrop, der den Film durch die Entfernung der Rolle für uns derart verkürzte: Die französische Produktion aus dem Jahr 1976 ist ungefähr so aufregend wie ein größeres Windows-Systemupdate. Ein Mann, dem die Frau weggelaufen ist, verfolgt sie bis nach Afrika, wo er sich auf der Suche beinahe gar nicht von diversen nackten Körpern ablenken lässt. Er trägt dazu einen etwas melancholischen Existentialistenblick spazieren, und man rechnet jede Minute damit, dass er gleich Kaffee und Zigaretten frühstückt. Stattdessen gibt es eine Orgie unendlichen Ausmaßes und eine ausführliche Verwendung von großen Hörnern, die, wenn ich die Mimik der Darstellerinnen richtig deute, eher schmerzhafter Natur ist. Der furchtlose KommKino-Hirte Nikolas, vielleicht der weltweit einzige Verfechter des drögen Films, verkündete nach der Projektion freudestrahlend, es gebe noch einen zweiten Teil, aber die Begeisterung blieb endenwollend.

Immerhin erlaubte es uns der ausgefallene erste Akt, statt noch mehr Buschgeplänkel einen hübschen (und ganz und gar unpornösen) Vorfilm zu sehen, der thematisch durchaus zu EIS AM STIEL paßte: ANNES ERSTER KUSS, ein norwegischer Kurzfilm aus dem Jahr 1988, der mit seinem Achtziger-Jahre-Look an alte Bravo-Foto-Lovestories erinnert und sehr charmant von der ersten Liebe erzählt. Vor allem die jungen Teenager, die hier spielen, sind großartig, und man hätte ihnen gerne noch länger zugesehen als den trüben Tassen, die AFRICA LOVE bevölkern. Wer hätte gedacht, daß es bei den „Sweet Movies“ tatsächlich auch einen süßen Film zu sehen gibt?

Vor den letzten beiden Filmen – darunter die zur Prime Time angesetzte MONA – ging es aber erst einmal zum Abendessen. Nachdem diverse Lokale unsere große Gruppe nicht beherbergen konnten oder wollten – hatte sich die Qualität von AFRICA LOVE etwa schon herumgesprochen? –, landeten wir im vollauf empfehlenswerten Bratwursthäusle, deren Speisekarte hauptsächlich die schwierige Entscheidung erfordert, ob man lieber sechs, acht, zehn oder zwölf ihrer deliziösen Rostbratwürste haben möchte. Für Vegetarier gibt es Käse als Beilagenoption, die man auch ohne den Rest bestellen kann, und wer Desserts will, liest einfach die Karte nochmal von vorne.

Als Abschlußfilm nach der guten alten MONA rollte noch ein sozusagen spektakulöses Schauspiel über die Leinwand: UNTER DER DECKE, ein italienisches Exponat aus dem Jahr 1986 – im Original nennt es sich MARINA E IL SUO CINEMA und wurde von einem Mann namens Arduino Sacco gedreht, der sich hier „Dudy Steel“ nennt (und in keiner Szene eine Decke zum Einsatz bringt). Weil Hauptdarstellerin Marina Hedman von der Festivalleitung so liebevoll, wie man das nur sagen kann, als „altes Huhn“ bezeichnet wurde, gab es im Vorfeld noch eine Schüssel Hühnersuppe zur Stärkung – die auch durchaus benötigt wurde. Auf eine Handlung verzichtet UNTER DER DECKE ganz so, wie es die italienischen Regiekollegen Antonioni und Fellini auch gerne taten – und bei denen gab es höchst publikumsfeindlich nie ein Voice-Over, bei dem ein wahrscheinlich arbeitsloser Dichter nach erhöhtem Weinkonsum von „Lustbolzen“ und „kleinen, aber fleißigen Schwänzen“ fabuliert. Die Darsteller plagen sich sichtlich ab, aber der Film lässt sie nicht einmal dann in Ruhe, wenn sie schon sichtbar keine Höhepunkte mehr vor sich haben. Angeblich geht es um höchst erfolgreiche Pornodarstellerinnen, und irgendwann sieht man auch mal eine Kamera und einen strengen Regisseur, der selbige nach einigem Herumgeturne einschaltet (und aus der Position heraus präzise den Hinterkopf einer der Frauen filmen würde).

Es wäre so trostlos wie ein leerer Futternapf, wenn nicht der Kameramann dem Film seine ganz eigene Note verpassen würde. Der Knabe wackelt mit dem Gerät, als hätte er Parkinson im Endstadium. Er ringt damit, als wäre sie ein wildes Tier. Er schleift sie durch die Szenerie, als wäre er sich unsicher, wann sie ein- und wann ausgeschaltet ist. Notdürftig holt er die armen Darsteller ins Bild, dann merkt er, dass er leider einen langen Schatten auf sie wirft, bevor er zur Decke hochschwenkt und dann quer über das Bett stolpert. Einmal schwenkt er hochmotiviert durch den Raum und muss leider feststellen, dass dort, wo die Frau zu sehen sein sollte, eine Hängelampe ihren Kopf verdeckt. Macht natürlich nichts, die Einstellung wird genauso wie jede andere verwendet! In einer grandiosen Montage in der Mitte des Films schwärmt der aufgeputschte Erzähler davon, wie in Rom die erotischen Träume wahr werden, während unser Kamerakind Tankstellen filmt, anonyme Häuserfronten absucht, vor einer Baustelle zittert, einen weißen Lieferwagen beobachtet und den Asphalt nach dem nächsten Gully abtastet. Fürwahr: Von diesem Kleinod touristischer Anregung könnte sich Otto Retzer für kommende TRAUMHOTEL-Folgen noch so einiges abschauen.

Mit diesem nachdenklich stimmenden Exposé der italienischen Filmindustrie ging das dritte „Sweet Movies“-Festival zu Ende, und mit ihm auch ein anheimelndes Wochenende im Kreise zahlreicher netter Filmfreunde, ohne die das Vergnügen am Programm nicht einmal halb so groß wäre: Es sind die vielen angeregten Gespräche, Späße, Sprüche und Diskussionen mit den eingeschworenen Cinephilen, die das Ereignis erst zu einem solchen machen. Wenn die heldenhaften Veranstalter Harald (Deliria Italiano) und Gary (Filmkollektiv Frankfurt) also nächstes Jahr in ihrem ungebremsten Enthusiasmus die nächste „Sweet Movies“-Reihe aufstellen, keimt die Lust nicht nur bei mir ganz sicher wieder auf.






Avatar-Foto
Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





You might also like