FilmKuschelkino

Sweet Movies 2: Ein Festival voller Höhepunkte

Das hätte ich mir als junger Mensch, der in die wundersame Welt des Films aufbricht, auch nie träumen lassen: Ich war am vergangenen Wochenende auf meinem ersten Porno-Festival. „Sweet Movies 2“ nannte sich das Groß- und Stoßereignis, das von den beiden leidenschaftlichen Lustspielfreunden Harald (Deliria Italiano) und Gary (Filmkollektiv Frankfurt) organisiert wurde und im Nürnberger KommKino stattfand. Zu diesem Kino habe ich ja schon eine besondere Beziehung: Nicht nur, daß dort schon meine Filme SCHLAFLOS und DIE MUSE gezeigt wurden – mein Kurzfilm CINEMA DELL‘ OSCURITÀ, der 2017 bei den Shocking Shorts nominiert war, wurde dort sogar gedreht und fängt den traditionsreichen alten Vorführraum ein, bevor er abgerissen und gegen einen moderneren ersetzt wurde.

Anlaß meines Besuchs war die Vorführung von Howard Ziehms FLESH GORDON – wie jeder gezeigte Film von einer originalen 35mm-Kopie. Nachdem ich momentan an einer Dokumentation über Howard Ziehm arbeite, die mit dem Titel FINDING PLANET PORNO ganz zentral auf FLESH GORDON verweist (Trailer: HIER, Facebook-Seite: HIER), wurde ich von Harald eingeladen, eine kleine Einführung zum Film zu geben. Die Besucherzahl war leider überschaubar – was am Samstagstermin von 14 Uhr gelegen haben kann – aber dennoch war es schön, den Film einmal mit Gleichgesinnten auf der großen Leinwand erlebt zu haben. Einige Zuseher haben mich hinterher mit lobenden Worten auf meinen kleinen Vortrag angesprochen, weshalb ich nach der Aufführung ganz sicher zweieinhalb Zentimeter gewachsen bin.

Das Festival startete aber schon Freitagabend mit einem Highlight: dem Kuschelkino-Klassiker schlechthin, DEEP THROAT – als einziger Film im Programm (entgegen der Ankündigung) auf Englisch. Über die Hintergründe zum Film habe ich hier schon im Zuge der Doku INSIDE DEEP THROAT geschrieben; der dazugehörige Film macht klar, warum er so einen Hype auslöste: Mit schelmischem Witz erzählt DEEP THROAT von einer unbefriedigten Frau, die vom Doktor aufgeklärt wird, daß ihre Klitoris im Rachen sitzt – und deswegen nur über Oralsex zum Höhepunkt kommen kann. Im Gegensatz zu den meisten Begegnungsfilmen funktioniert die Balance zwischen einfacher Handlung und ausgiebigem Sex hier sehr gut: Man folgt der Odyssee der Hauptfigur tatsächlich, als wäre es ein schmuddeliger Bildungsroman, und kann gleichzeitig sein Vergnügen an den Signalen haben, die dem Zuseher immer zeigen, daß die Macher wußten, wie absurd hier alles ist. Neben der hübsch natürlichen Linda Lovelace in der Hauptrolle begeistert vor allem ihr Hauptpartner Harry Reems, dessen Charme unter anderem darin liegt, als absoluter Normalo den perfekten Stellvertreter für den Zuschauer zu bieten und so zu wirken, als könne er sein Glück selber kaum fassen, in solch einen Männertraum geraten zu sein.

Der zweite Film am Freitag führte uns in die Achtziger, als aus den unglaublichen Mengen an pornographischem Material, das die Siebziger zu bieten hatten, durch die verbilligte Videoproduktion noch viel unglaublichere Mengen wurden. NAKED SCENTS, veröffentlicht 1985, vermischt die Seifenoperstories um intrigante Familien mit ganz harmlosen Jeder-darf-mit-Jedem-Kuppeleien. Der Geschäftsmann hat etwas mit seiner Haushälterin und auch mit seiner Ex-Frau laufen, seine Verlobte dagegen gibt dem Chauffeur erweiterte Aufgabengebiete und umgarnt den Tennislehrer, der ebenfalls zur Ex-Frau und zur Tochter des Geschäftsmanns Beziehungen pflegt. Die verflossene Gemahlin will die junge Nachzüglerin absägen, aber dem Ehemann sind die offenen Beziehungsvorstellungen seiner neuen Dame wohl ohnehin nicht so wichtig. Derweil versucht noch der Sohnemann des Geschäftsmanns, an seine Schwester heranzukommen – der er dann in der Horizontalen mit dem Argument „Du bist adoptiert“ die letzten Bedenken raubt. Es ist beileibe kein herausragender Streifen – der übrigens von einer Frau inszeniert wurde (Elissa Christine, offenbar ihr einziger, sofern es sich nicht um ein Pseudonym handelt) und doch wie jeder andere Kuschelfilm seiner Zeit aussieht – aber er hat durchaus seine Reize: Italo-Kultfigur Robert Kerman (CANNIBAL HOLOCAUST) steht in der Hauptrolle unter seinem Decknamen „R. Bolla“ seinen Mann; das Prozedere ist recht heiterer Natur – vor allem die Sequenz um den fleißigen Tennis-Coach, der die Damen (darunter die süße Taija Rae als Tochter Melissa) in Akkord-Arbeit beglückt; und nicht zuletzt macht der Synthpop-Soundtrack Laune, der leider nie separat veröffentlicht wurde (wie wir nach der Sichtung prompt recherchiert haben).

Nach der samstäglichen Eröffnung mit FLESH GORDON stand ein Trip nach Schweden auf dem Programm: BEL AMI (bei uns auch SKANDINAVISCHE LUST und – etwas prosaischer – DER HURENBOCK) wurde von Mac Ahlberg inszeniert, der später in Amerika Filme wie HELL NIGHT, DEEP STAR SIX und BEVERLY HILLS COP III als Kameramann betreute. Hier führt er einen schüchternen Schreiberling durch eine Reihe von intensiven Körperkontakten, die ihn – ganz nach der Geschichte von Guy de Maupassant – gesellschaftlich immer weiter nach oben bringen. BEL AMI war ganz klar der ästhetischste Film des Programms: Ahlberg setzt ein besonderes Augenmerk auf seine Bildkompositionen, alles ist sorgfältiger inszeniert, als es in vergleichbaren Filmen der Fall ist. Pupillenfreundlich ist der Streifen vor allem aber auch durch die Frauen, die so liebreizend sind, daß man sich gar kein Ende herbeisehnt. Das geht dann allerdings leider auch in Erfüllung: Irgendwann kommt einfach noch eine, und noch eine, und noch eine, und der arme Harry Reems (schon wieder!) wirkt am Ende wie ein Schwerarbeiter, den man kaum mehr beneiden kann; außerdem kommt in den letzten 20 Minuten eine gewisse Albernheit hinzu, die der schönen Stimmung doch etwas abträglich ist. Der Film löste hinterher intensive Debatten aus, weil er zum Ende hin doch so frustrierend langatmig wird – aber ich darf hier nochmal festhalten, daß die wundervollen ersten ca. 70 Minuten dennoch so betörend sind, daß sich mein Herz gegenüber diesem Film gar nicht schließen mag.

Nach Essens- und Shoppingpause (der große Müller in Kinonähe will freilich genau inspiziert werden!) lockten die amerikanischen ROLLERBABIES wieder ins Kino. Eine ganze Zeitlang hing die Frage im Raum, ob uns nicht vielleicht der falsche Film untergejubelt wurde: Plakat wie Filmtitel locken mit einem Sex-auf-Rollschuhen-Konzept, das quasi als Parodie von ROLLERBALL funktionieren soll – aber eine geschlagene Stunde lang ist die einzige Figur, die Rollschuhe trägt, ein merkwürdiger Professor, während die Kuscheleien ganz traditionell auf dem Bett oder – für die Romantiker – über den Schreibtisch gebeugt stattfanden. Das wäre kaum so schlimm, wenn nicht jede entsprechende Szene wie eine schwere Zementmischung wirken würde: die Darsteller liegen teils regungslos herum, die Kamera verweilt endlos auf den einzelnen Einstellungen, alles wirkt freud- und schwunglos. Wie eine Zementmischung wirkt auch die graue Substanz, die eine Darstellerin unserer Hauptfigur über die empfindlichen Stellen kleckert – aber nachdem sie dann dran leckt, dürfte es sich wohl um schon am Vorabend aus dem Kühlschrank geholtes Speiseeis handeln. Die Szene ist nicht schön, aber dafür richtig lang. Abgesehen von Suzanne McBain machen auch die Darstellerinnen kaum etwas her; die allzu derbe Synchro raubt dem traurigen Spektakel dann vollends die letzte potentielle Freude an der Sache. Mit seiner Zukunftsvision, in der Geschlechtsverkehr verboten ist und sich die Menschen nur noch zum allgemeinen Entertainment in einer Fernsehshow paaren, hält sich der Film für viel cleverer, als er ist. Immerhin kommen dann doch zum Schluß noch die Rollschuhe zum Einsatz: in einer stinknormalen Sporthalle, in der sich die Darsteller unglaublich abmühen, die in der Theorie witzige Idee von der „rollenden Nummer“ in die sehr wacklige Praxis umzusetzen.

Und dann war da noch der Abschlußfilm, der nur als schier unglaublich bezeichnet werden kann. BIGGI – EINE AUSREISSERIN nannte sich das gar spektakulöse Stückchen Zelluloid, von dem schon im Vorfeld gemunkelt wurde, es sei potentiell unappetitlich; passend dazu wurde vor der Aufführung gewarnt, daß es dank Schimmelbefall der Vorführkopie im dritten Akt einige Minuten lang zu heftigen Tonausfällen kommen würde. Sprich: Dreck auf allen Ebenen. Und doch war niemand vorbereitet auf diese bestürzende Dokumentation westdeutscher Befindlichkeiten: Da reißen die junge Biggi und ihre Freundin von zuhause aus, um mal etwas „richtig Geiles“ zu erleben – und landen sofort bei einem dicken alten Herrn in der Limousine, der sie in den wohl spießbürgerlichsten Partykeller schleift, der in der offenkundig kurzen Produktionszeit aufgetrieben werden konnte. Der Weg führt über eine Bar, in der die einsamen Herzen der untersten Arbeiterklasse ihr Zuhause finden, direkt ins Bordell – aber die wackere Biggi, ein frohsinniger Gegenentwurf zur Generation „Null Bock“, genießt jede dieser Stationen, die nach nur wenigen Sekunden unweigerlich zu geöffneten Hosen und herzhaften Natursekt-Neckereien führt. Ein Wunder eigentlich, daß seinerzeit niemand befürchtete, orientierungslose Gerade-mal-Volljährige könnten nach Sichtung des Films ebenfalls aus dem Alltag ausbrechen und etwas „richtig Geiles“ erleben wollen.

Die Darsteller erlauben soziale Einblicke, die anderswo schlicht unter den Teppich gekehrt werden: der schwer übergewichtige Mann im gesetzten Alter, der schmierige Bordellkunde mit der auffälligen Goldkette um den Hals, die verbrauchte Puffmutter, der so anständig wirkende, aber dem Gruppensex zugeneigte Barbesucher – sie alle wurden offenbar direkt von der Straße aufgelesen und in diesen Film gezerrt; sie alle blicken immer wieder nervös in die Kamera, als wollten sie fragen „gut so?“ oder überhaupt nach einer Anweisung suchen. Morbide faszinierend vor allem ein spindeldürrer älterer Bordellkunde, der wie ein wandelndes Skelett aussieht und beim Liebesakt mehrfach so wirkt, als würde er sich gleich von dieser Welt verabschieden – er könnte direkt in der Notschlafstelle angeheuert worden sein. Die dazugehörigen Mädchen, vor allem eins im hinteren Teil, sehen mit ihren glasigen Augen nach dezentem Drogenkonsum aus und stammen vielleicht direkt aus einem Düsseldorfer Bordell. Wahnwitzig sind dazu noch die über das Schnodderspektakel gelegten Dialoge: Die blumig-obszönen Kreationen wirken, als hätte sich da ein Beat-Dichter nach langem Bukowski-Wochenende nicht mehr unter Kontrolle. Von „pervers erfahrenen Zungen“ und „versauten Lustritzen“ ist da die Rede, die Sprache ist so betont derb und übertrieben lüstern, daß sie irgendwo zwischen Parodie und Poesie schwebt. Leider ist uns über das wundersame Werk, das die gesammelte Besucherschaft zwischen schallendem Gelächter und ungläubigem Kopfschütteln pendeln ließ, rein gar nichts bekannt. Sachdienliche Hinweise zum Verbleib von Regisseur Charles Köhn (der danach noch den Hardcore-Streifen LEHRJAHRE EINES TEENAGERS inszenierte) und Biggi-Darstellerin Karin Hilgers werden mit mindestens 1000 Erfahrungspunkten belohnt.

Lieber Harald, lieber Gary: Ich danke euch, daß ich dieses Programm erleben durfte – es war etwas „richtig Geiles“. Bis zum nächsten Festival!

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    Comments are closed.

    0 %