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IN REAL LIFE: CATFISH-Protagonist Nev Schulman über den richtigen Umgang mit dem Internet

Nev Schulman wurde 2010 mit dem Dokumentarfilm CATFISH bekannt, in dem er über Monate hinweg per Internet mit einer jungen Frau kommunizierte und sich verliebte – nur um dann bei einem neugierigen Überraschungsbesuch feststellen zu müssen, daß sich hinter seiner „Megan“ eine ganz andere Person versteckte. Vermarktet wurde das Ganze durch einen geschickten Trailer wie eine Art Psychothriller, tatsächlich war CATFISH aber eine durchaus anrührende Story, bei der nicht nur die bizarren Ausmaße der Online-Lüge faszinierten, sondern auch das menschliche Drama dahinter. Die Authentizität der Geschehnisse wurde wie bei allen solchen „Selbst-Dokus“ vehement hinterfragt – aber unabhängig von der Frage, wie echt das Gezeigte tatsächlich sein mag, war CATFISH eine spannende und interessant erzählte Geschichte. Nach dem Durchbruch des Films startete Schulman auf MTV eine gleichnamige Fernsehshow, in der er und sein Team ähnliche Online-Beziehungen untersuchen. Das Wort „Catfish“ bezeichnet seitdem jemanden, der sich im Netz als andere Person ausgibt.

Daß Schulman nun ein Buch über seine Erlebnisse schreibt, in dem er das Phänomen falscher Identitäten im Internet untersucht und gleichzeitig Verhaltensregeln für Online-Aktivitäten aufstellt, ist unserem Konzept vom modernen Expertentum zu verdanken: Der Mann beschäftigt sich im Fernsehen mit dem Thema, hat selber so etwas schon mal erlebt und darf also jetzt mit Küchenpsychologie und Selbsthilfeattitüden bewaffnet den kompetenten Schlauberger spielen. Das erinnert ein bißchen an Journalist Neil Strauss, der nach ausreichender Anzahl erfolgreicher Bücher und flachgelegter Frauen nun als Liebes-, Lebens-, Glücks- und Finanzcoach auftritt.

Dabei sind Schulmans Absichten gar nicht schlecht, und wenn er sich journalistisch um handfestere Informationen als Ergänzung zu seinen privaten und fernsehbedingten Erfahrungen bemüht hätte, wäre sein Buch IN REAL LIFE: LOVE, LIES & IDENTITY IN THE DIGITAL AGE sicherlich ein interessantes Werk zu einem spannenden Thema geworden. Zumindest im ersten Part hofft man als Leser noch, daß sich das erfüllen könnte: Schulman erzählt von seinem eigenen CATFISH-Erlebnis und von diversen Fällen, die er im Rahmen der Fernsehshow behandelt hat, und versucht daraus verschiedene Verhaltensmuster herauszukristallisieren. Die erkenntnisreichsten Passagen sind hier einerseits die Beobachtung, daß zu einem solchen Online-Fake auch immer ein Rezipient gehört, der genau das hört, was er braucht – sprich: Der falsche Partner füllt eine Leerstelle beim anderen aus – und die Erinnerung, daß das Vorspiegeln falscher Tatsachen nicht nur etwas ist, was einige wenige Betrüger im Netz probieren, sondern wir alle auf die eine oder andere Art in abgemilderter Form tun – zum Beispiel, wenn wir uns im Facebook-Profil als aufregender und populärer darstellen, als wir sind.

Diese Passagen, die sich durchaus interessant lesen, auch wenn sie kaum durch harte Fakten untermauert werden, sind immer wieder von autobiographischen Erzählungen geprägt, in denen Nev nicht nur von seiner CATFISH-Story berichtet, sondern auch von seiner problematischen Vergangenheit – Aufmerksamkeitsdefizit, selbstsüchtiges Verhalten, Rausschmisse an diversen Schulen, und so weiter. Das hat erstmal nur marginal mit dem Thema des Buches zu tun und liest sich vor allem in späteren Parts, in denen Schulman wieder und wieder auf sich selbst zu sprechen kommt, wie eine Art Konfession, die mit einer Läuterungsgeschichte gekoppelt ist: So schlimm war ich mal, aber ich habe es eingesehen und mich stark verbessert.

Dieser Selbstverbesserungsweg rückt dann im zweiten Teil des Buches in den Vordergrund, in dem Schulman dem Leser Hilfestellung für das Leben geben will – online wie offline. Durch die eigenen Erfahrungen legitimiert wirft er da mit Verhaltensregeln um sich, warnt vor den Gefahren des Internets, will den Leser aus der Passivität holen, lamentiert über Social-Media-Abhängigkeiten, predigt den Wert von echten Freundschaften und propagiert die Kraft des positiven Denkens. Das ist auch alles gut gemeint und im Prinzip nicht verwerflich – nur pendeln die entsprechenden Kapitel andauernd zwischen kompletter Banalität und kaum zu Ende gedachten Tiraden hin und her.

Zum Beispiel der Wert echter Freundschaften: Ja, eh klar. Müssen wir darüber reden? Schulman schießt sich auf den „Freundes“-Begriff von Facebook ein und regt beständig an, den echten Kontakt mit echten Freunden zu suchen, anstatt den virtuellen mit Menschen, die man nicht kennt. Da klingt er dann ein bißchen wie der Onkel, der einerseits etwas sagt, was schon irgendwie stimmt – gute Freunde sind wichtig! – und es andererseits einfach nicht schafft, moderne Technologie auch als etwas zu begreifen, das Chancen mit sich bringt und auch den Horizont erweitern kann. Das zeigt sich vor allem daran, daß seine Argumente oft eins zu eins auf andere Medien vor der Verbreitung des Internets übertragbar sind: Man soll nicht zuviel Zeit online verbringen, sondern sich öfter „in echt“ mit Leuten treffen, weil das viel bereichernder ist – das könnte man auch über den Fernseher sagen, und es war auch, so unglaublich uns das heute erscheint, seinerzeit ein Argument gegen das Telefon.

So schafft es Schulman dann auch nicht, seine Catfish-Geschichten in ein größeres Gesamtbild zu setzen: Das Internet erleichtert es wohl vielen, eine falsche Identität vorzugaukeln, aber solches Verhalten existiert ja wahrlich nicht erst seit ein paar Jahren. Dabei verwendet er sogar den Vornamen von Cyrano de Bergerac, um einen bestimmten Typus Catfish zu beschreiben! Und so vermischt er denn auch beständig seine Themen: Es geht um Menschen, die sich andere Identitäten kreieren, und es geht um das Internet, und es geht auch um allzu passives Leben, das man mit dem Internet verbringt, und somit geht es auch um den Versuch, ein besserer Mensch zu werden. Klar soweit, ja?

Richtig schön verstricken tut sich Schulman dann, wenn es darum geht, daß er die Leser dazu bringen will, öfter mal offline zu gehen, aber dann produktive Menschen als Beispiele hervorhebt, die politisch wichtige Websites oder virale Videos geschaffen haben. Also: Online ist schon cool, wenn man selber kreativ ist. Sonst wohl nicht: Nur konsumieren und „liken“ ist Zeitverschwendung. Wenig später heißt es dann, daß man auch „Follower“ sein kann, also Ideen unterstützen kann, und da ist ein „Like“ dann sehr wichtig. Also wird das Argument wieder umgebaut: Nur sinnvoll „liken“, nicht einfach so! Man weiß irgendwie schon, was er meint, aber durchdacht sind diese Statements kaum – und weil sie immer mit Hinweisen gekoppelt sind, wie man sich verhalten soll, kann die Lektüre auch durchaus schon mal ärgerlich werden. Zum Beispiel, wenn empfohlen wird, zur Prüfung der Identität einer Online-Person diese zu googeln, am angeblichen Arbeitsplatz anzurufen und über Facebook deren Freunde anzuschreiben – was Schulman selber in seiner CATFISH-Story übrigens nicht geholfen hat.

Schade sind alle diese Fallstricke nicht nur deswegen, weil das Thema eigentlich etwas viel Spannenderes hergegeben hätte, sondern auch deshalb, weil Schulman im Prinzip gar nicht unsympathisch wirkt. Er schreibt im angenehmen Konversationston, erzählt mit nettem Humor, plaudert ein bißchen aus seinem Leben, und irgendwie meint er oft auch das Richtige mit seinen Tips – ohne den Anspruch, anderen erklären zu müssen, wie man lebt, wäre das Buch zumindest ein netter Zeitvertreib zum Nachmittag.

Die Moral ist also ungefähr die: Nehmt das sinnlose Internet bitte nur noch für etwas Sinnvolles her. Ob Nev Schulmans offizielle Facebook-Seite dazugehört?



Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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