DIE LEICHE – Der letzte der immerwährenden Sommer

Buch / 19. August 2017

In Folge #21 unseres Lichtspielplatz-Podcasts reden wir über Rob Reiners STAND BY ME, in dem sich vier Jugendliche auf die Suche nach einer Leiche begeben. Passend dazu: Ein Gastbeitrag von Dr. Wily über die dazugehörige Originalgeschichte von Stephen King, „Die Leiche“ („The Body“), erschienen in der Anthologie FRÜHLING-SOMMER-HERBST UND TOD (1982, im Original: DIFFERENT SEASONS).

„Ich glaube, daß dieser Sommer Jahre dauerte, auf magische Weise in einem Netz von Geräuschen gefangen. Ich höre noch das leise Zirpen der Grillen, das Maschinengewehrgeknatter der gefalteten Spielkarten an den Fahrradspeichen eines Jungen, der abends nach Hause fährt und sich auf seinen eisgekühlten Tee freut […]. Es gab Spiele und zahllose verpaßte Mahlzeiten. Es gab Rasen, die gemäht werden mußten, Wände, gegen die man Münzen werfen konnte, und Leute, die einem auf die Schulter klopften.“

„Die Leiche“ mag auf den ersten Blick nicht wie eine typische Stephen King Geschichte wirken. Dieser Eindruck muß bei ihrem Erscheinen 1982 noch viel stärker gewesen sein, als King noch mehr mit klassischen Horrorgeschichten wie CARRIE, BRENNEN MUSS SALEM oder THE SHINING assoziiert wurde als heute, wo er auch einige eher literarische und dramatische Werke in der Bibliographie hat.

Doch obwohl „Die Leiche“ keine Horrorstory ist und keine phantastischen Elemente enthält, halte ich diese Geschichte für eine quintessenzielle Stephen-King-Erzählung. Alles, was seine Geschichten ausmacht, ist hier enthalten. Alles, was ihn zu einem so speziellen Erzähler macht, finden wir hier. Und mit Vampiren, Monstern oder bösen Clowns hat das nichts zu tun.

„Wollt ihr Jungs eine Leiche sehen?“

Erzählt wird die Geschichte von vier Freunden, alle 12 Jahre alt, die im Sommer 1960 zu Ohren bekommen, daß ein Junge in ihrem Alter tödlich verunglückt ist und seine Leiche noch nicht gefunden wurde. Und weil alle vier die oben zitierte Frage mit „ja“ beantworten und natürlich kein 12-Jähriger ein Feigling ist und sein will, beschließen sie, sich auf den Weg ins Abenteuer zu machen.

„Die Leiche“ ist eine Geschichte über Freundschaft und den Verlust der Unschuld. Vier Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden suchen eine Leiche, sie suchen den Tod. Mit der Entdeckung des Todes beginnt das Erkennen der Endlichkeit und damit ist auch die Unschuld der Kindheit, das Gefühl, daß das Leben unendlich ist, weil man sich ein Ende gar nicht vorstellen kann, verschwunden.

Stephen King hat ganz oft solche Geschichten erzählt, diese Phase im Leben dürfte ihn interessieren, und kaum jemand kann diese Zeit so beschreiben wie er. Ich habe schon in meinem Text zu Kings JOYLAND geschrieben, daß er wohl nicht mehr in die Reihe der großen Jugendbuchautoren aufgenommen werden wird, was vielleicht daran liegt, daß er im Gegensatz zu Kästner, Lindgren oder Ende nicht dezidiert für Kinder und Jugendliche schreibt. Er wählt als Perspektive oft, wie auch hier, die Rückschau – ein erwachsener Erzähler blickt auf seine Kindheit zurück, womit automatisch eine gewisse Wehmut und Nostalgie in die Erzählung mit einfließt. Was aber nicht bedeutet, daß wir uns nicht trotzdem unendlich verstanden gefühlt haben, als wir seine Bücher mit 13 in die Finger gekriegt haben.

Eingangs habe ich gesagt, daß „Die Leiche“ keine Horrorgeschichte ist. Für King scheint Horror immer ein sehr weites Feld gewesen zu sein, das sich nicht nur auf phantastische Wesen, andere Welten, mysteriöse Vorgänge oder grausame Details beschränkt, sondern viel basaler mit der Gefühl der Angst zu tun hat. Horror ist, was Angst macht. Stephen King weiß, was uns Angst macht, wohl weil er weiß, was ihm Angst macht und machte. Er weiß, wie Kinder die Welt sehen und wie sie sich vor anderen Dingen fürchten als Erwachsene. In „Das Mädchen“ reicht das Sich-Verirren im Wald, daß die Angst die Phantasie auf (Horror-)Touren bringt. „Wir alle kannten solche Träume. Ich hätte damals allerdings gelacht, wenn man mir gesagt hätte, daß ich mir mit diesen Kindheitsängsten und Alpträumen in gar nicht allzu langer Zeit ungefähr eine Million Dollar zusammenschreiben würde.“

In den meisten seiner Geschichten ist die Angst schon ganz früh da, in Form düsterer Träume, Vorahnungen oder Vorstellungen, die extrem real erscheinen, aber dann doch „nur“ im Kopf sind. Die phantastischen Elemente tauchen meist erst spät auf, indem diese Dinge im Kopf dann zu echten Figuren und Welten werden, plötzlich wirklich wer im Schrank steht oder die Toten tatsächlich zurückkehren.

Die Angst ist auch in „Die Leiche“ von Anfang an und beständig Teil des Lebens der Kinder und ihres Abenteuers. Da gibt es kriegstraumatisierte Väter, Alkoholiker und andere gewalttätige Verwandte, Geschichten über Killerhunde, Jungs, die auf der Autobahn Lastwagen foppen wollen, depressive Eltern, die ihren Sohn ignorieren, und einen toten Bruder, den die Hauptfigur Gordie manchmal blutend im Schrank stehen sieht. Es ist der Horror des Alltags, Ängste als Teil unseres Lebens in einer Gesellschaft und Familie.

Das Identifikationspotential von Kings Figuren ist deshalb so hoch, weil sie einerseits ganz normale Leben führen und alle mit den uns bekannten Alltagssorgen beschäftigt sind, bevor dann auch noch die Monster dazu kommen. Keine Stephen-King-Figur lebt ein Leben in eitler Wonne. Schulden, Jobprobleme, Krankheiten, Familienkonflikte sind schon immer Begleiter von Kings Figurenpersonal, was an sich schon ängstigend und fordernd genug ist. Als Leser ist es uns also leicht, sich mit ihnen zu identifizieren, selbst wenn dann die Untoten oder der Scharlachrote König kommen.

In „Die Leiche“ ist, wie eben auch in vielen anderen seiner Bücher, ein weiterer Kniff das Alter der Protagonisten. Alle vier Burschen sind gerade noch zu jung, um schon einen vorgefertigten Lebensweg zu haben. Sie sind Kinder, wie wir alle Kinder waren. Ihr Weg könnte auch unserer sein, und daher könnten wir auch eines dieser Kinder sein. Und wir alle können uns an unseren eigenen, völlig individuellen Tag erinnern, als wir unsere erste Leiche gesehen haben. Als wir gemerkt haben, daß nichts ewig dauern wird, sondern alles irgendwann zuendegeht. Daß Freundschaften und Familien zerbrechen werden und die Welt, die Menschen und das Leben sehr brutal und grausam sein können, wenn sie uns Dinge wegnehmen, die uns wichtig sind. In „Die Leiche“ hält Stephen King, vertreten durch seinen fiktiven Erzähler Gordie Lachance, an der Zeit davor, dieser Zeit der Unschuld, fest. Denn wenn die Angst kommt, brauchen wir etwas, das wir ihr entgegen halten können – zum Beispiel diesen letzten der immerwährenden Sommer.

„Nie wieder hatte ich solche Freunde wie damals, als ich zwölf war. Mein Gott, Sie etwa?“


Unser Lichtspielplatz-Podcast über die Verfilmung STAND BY ME findet sich hier






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Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.