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BEYOND CLUELESS: Ein Videoessay läßt alle Fragen zum modernen Teeniefilm offen

Der junge Filmblogger Charlie Lyne macht sich in seinem Videoessay BEYOND CLUELESS daran, einen genauen Blick auf die Teenagerfilme ab Mitte der Neunziger zu werfen – eben die, die dem Titel entsprechend nach CLUELESS veröffentlicht wurden. Sein abendfüllender Film ist keine Dokumentation, sondern eine Art Collage mit Erzählstimme – es gibt keine Interviews und kein eigens gefilmtes Material, stattdessen werden Clips aus den entsprechenden Filmen montiert und kommentiert. Die Erzählstimme stellt dafür übrigens die Schauspielerin Fairuza Balk zur Verfügung, die mit DER HEXENCLUB einschlägig vorbelastet ist (aber hier natürlich nur als Sprachrohr für Lynes Text fungiert).

Es ist ein reichhaltiges Sujet, das sich Lyne hier vorknöpft, und seine Fokussierung auf die Jahre 1995 bis ca. 2004 stellt auch sicher, daß hier Filme abgehandelt werden, die bislang selten ernstgenommen wurden. Und doch beginnen die Probleme von BEYOND CLUELESS schon gleich mit der Auswahl: Für Lyne ist ein „teen movie“ offenbar alles, in dem irgendwie Teenager vorkommen, und so wirft er die leichtfüßige Romanze EINE WIE KEINE in denselben Topf wie den Retro-Slasher ICH WEISS, WAS DU LETZTEN SOMMER GETAN HAST, die Arthouse-Meditation ELEPHANT oder die Thriller SWIMFAN und THE GLASS HOUSE.

Das wäre schön und gut, wenn Lyne irgendwie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Herangehensweisen dieser Filme herausarbeiten würde – stattdessen aber nimmt er alle diese Bilder und stellt sie gleichwertig nebeneinander. Darüber stolpert schon das erste Kapitel, „Fitting In“, über die verschiedenen Gruppierungen, die in den Filmen immer wieder auftauchen: Die augenzwinkernd überzeichneten Stereotypen eines MEAN GIRLS stehen da also gleichberechtigt neben harmlosem Klamauk wie FRECHE BIESTER!, der solche Klischées einfach übernimmt; die differenziert gezeichneten und auf Augenhöhe betrachteten Figuren eines ELEPHANT stehen gleich neben einer Wunscherfüllungs-Phantasie wie 30 ÜBER NACHT.

Freddie Prinze Jr. und Paul Walker in EINE WIE KEINE (SHE’S ALL THAT).

Lyne redet also eher über eine Art Filmkollektiv, aber selbst im Gesamtansatz wäre es notwendig, die Bedeutung der Bilder zu differenzieren, die man da zusammenklebt. Stattdessen scheint Lyne diese Parade an wiederkehrenden Motiven komplett für bare Münze zu nehmen: Es gibt Outsider und Populäre, wird da resümmiert, Teenager machen dies durch und erfahren jenes. Überhaupt: Teenager – immer wieder werden im Kommentar Sätze konstruiert, die klingen, als würde es um Teenager und nicht um Teenagerfilme gehen. Falls Lyne aus den Filmen etwas über tatsächliche Teenager-Befindlichkeiten herauslesen wollte – was ein durchaus legitimer Ansatz wäre – wäre es umso notwendiger, zwischen karikierenden und bestätigenden Bildern zu unterscheiden.

Im Laufe seines Essays pickt sich Lyne einige Filme heraus, die nicht nur Futter für die Gesamtmontage sind, sondern genauer unter die Lupe genommen werden – darunter der erwähnte Slasher ICH WEISS, WAS DU LETZTEN SOMMER GETAN HAST, der Monster-Horrorfilm JEEPERS CREEPERS, der surreale BUBBLE BOY und die Anarchokomödie EUROTRIP. Von einer „Analyse“ zu sprechen, wäre allerdings weit übertrieben: Zunächst mal faßt Lyne die Handlungen dieser Filme zusammen – ohne dabei darauf einzugehen, inwieweit diese Handlungen in den Dutzenden von ähnlichen Filmen wiedergekäut werden oder sich vielleicht davon unterscheiden. Dann pickt er sich ein Thema heraus, mit dem er ihn lose an andere Filme anknüpft: Aus JEEPERS CREEPERS will er Themen der Homophobie herauslesen – als Beweislage dienen dafür eine frühe Szene, in der der Protagonist über ein Nummernschild lacht, auf dem er vermeintlich das Wort „gay“ lesen kann, und eine spätere Szene, in der er in der Höhle des Monsters neben den nackten Körpern der zahlreichen männlichen Opfer aufwacht. Angebunden wird das an EUROTRIP, in der die Hauptfigur glaubt, daß sich hinter seiner deutschen Brieffreundin Mieke ein Kerl namens „Mike“ verbirgt.

Jesse Bradford und Erika Christensen in SWIMFAN.

Jenseits dieser Plot-Synopsen und der gerne mal sehr dünn argumentierten Themen passiert nichts, was auch nur die geringste Erkenntnis liefern könnte. Nirgendwo wird darüber geredet, mit welchen filmischen Mitteln gewisse Themen abgehandelt werden (z.B.: mit welchen Bildern werden bestimmte Momente wie der Abschlußball eingefangen? Wie wird Musik eingesetzt, um ein Lebensgefühl einzufangen oder Humor zu erzeugen?). Nirgendwo wird darüber geredet, inwieweit sich die Filme ähneln, beeinflussen oder unterscheiden. Nirgendwo wird darüber geredet, was den Zeitraum der ausgewählten Filme von früheren Teenagerfilmen wie denen von John Hughes unterscheidet (z.B.: wer sind die Protagonisten? Wie hat sich die Haltung gegenüber den gezeigten Gruppen wie z.B. den „Nerds“ gewandelt?). Daß in Teenagerfilmen Themen wie Identität, Sexualität und das Erwachsenwerden abgehandelt werden, könnte mir wohl auch meine Oma erklären, die nie im Leben einen solchen Streifen gesehen hat.

So bleibt also eine Montage, die zu den wohligen Retro-Klängen der Band Summer Camp höchstens als Ratespiel für Filmfans dienen kann, die die gezeigten Clips schnell den richtigen Filmen zuordnen müssen. Sicherlich sind manche dieser Passagen ganz stimmungsvoll gestaltet, aber warum hinter das Kapitel über den Schritt ins Erwachsenenleben ausgerechnet eine lange Montage über die erste Masturbation gepackt wird, bleibt ebenso frustrierend inkonsequent wie die unendlich vielen Auslassungen dieses Videoessays, der wohl auf YouTube bzw. Vimeo besser aufgehoben wäre als im Kino.

Eine Anmerkung noch, die aufzeigt, was BEYOND CLUELESS hätte werden können: Das Geld für seinen Film hat Charlie Lyne über Kickstarter gesammelt. Dort leitet er die Beschreibung des Projekts mit den folgenden Worten ein:


Something amazing happened in 1995.

After half a decade in the
wilderness — with nothing but memories of happier, John Hughesier times
to cling on to — the teen genre was suddenly and dramatically reborn,
in a blaze of movies that combined wit, wisdom and an invaluable
disregard for what had come before, to make a mockery of everything
Hollywood thought it knew about its teenage audience.

Später heißt es sogar noch expliziter: „Part historical account, part close textual analysis, part audiovisual
mood piece and part head-over-heels love letter to the teen genre […]“.

Gut, ein Projekt ändert sich in der Entstehung – das ist absolut legitim. Aber interessant ist es schon, daß hier von einer historischen Aufarbeitung gesprochen wird, die nie auch nur im Ansatz stattfindet (nicht einmal der titelgebende CLUELESS wird in den Kommentar eingebunden). Aber selbst, wenn man den Teil „for what had come before“ ignoriert, bleibt uns BEYOND CLUELESS die Antwort schuldig, was genau diese Revolution ausmachte, worin „wit“ und „wisdom“ dieser Filme lagen. (Und ja, ich finde absolut, daß diese Filme cleverer sind, als man ihnen zugesteht, und hätte gerne ein entsprechendes Argument mitverfolgt.)

Jennifer Love Hewitt in ICH WEISS, WAS DU LETZTEN SOMMER GETAN HAST.

Im dazugehörigen Kickstarter-Video läßt Lyne seinen Film auch ganz anders klingen:

… an audiovisual voyage through the careers of such icons as Freddie Prinze Jr., Natasha Lyonne, Heath Ledger and Claire Danes – and answering all sorts of important questions along the way. Questions like: Just how much does 13 GOING ON 30 have to tell us about existential doubt? How did Chris Klein’s super jock Oz manage to get through all of high school without losing his virginity in AMERICAN PIE? Why did the unseen and explicit cover of ROAD TRIP feature no more nudity than the cinema version? And is there any one fail-safe method of telling Renée Zellweger and Joey Lauren Adams apart?

Abgesehen von 30 ÜBER NACHT findet man hier keinerlei Übereinstimmung mit dem fertigen Film. Es geht mir bei diesen Zitaten nicht darum, daß Lyne seinen Film falsch beworben hat – wie gesagt, jedes Projekt wandelt sich von der Grundidee bis zur Fertigstellung. Aber der augenzwinkernde Tonfall dieser Ankündigung schlägt sich in keiner Weise im fertigen Film nieder – dabei hätte ein Genre, das sich selber nicht allzu ernst nimmt, auch eine leichtfüßigere Aufarbeitung verdient. Auch ernsthafte Überlegungen können in einen Rahmen gepackt werden, der zum Thema paßt.

Das ist wohl die größte Bruchstelle zwischen BEYOND CLUELESS und seinem Sujet, und das merkt man unabhängig davon, ob man die Vorab-Beschreibung kennt oder nicht: BEYOND CLUELESS ist ein schwermütiger Brocken, der völlig spaßbefreit an eine eigentlich witzige Materie herangeht. So kriegt man beim Ansehen bestensfalls Lust, mal wieder den einen oder anderen Teeniefilm zu schauen – und was der uns abgesehen vom Vergnügen vielleicht zu sagen hat, kann er selber weitaus besser artikulieren als BEYOND CLUELESS.

Beyond Clueless (UK 2014)
Regie: Charlie Lyne
Buch: Charlie Lyne

Näheres zum Film kann auf der Website www.beyondclueless.co.uk in Erfahrung gebracht werden. Die zitierten Kickstarter-Passagen stammen von der Projektseite: www.kickstarter.com/projects/charlielyne/beyond-clueless.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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