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[Film] Lisbon Story (1994)

Ah não ser eu toda a gente e toda a parte!

„Könnte ich doch jedermann und überall sein …“ Das ist wohl das Dilemma des Künstlers, der gerne alles erzählen, alles zeigen, und alles erleben möchte. Aber in der Tat hilft die Kunst nicht nur dem Künstler, sondern auch dem Kunstgenießer, jedermann und überall zu sein. Wir treffen Menschen, denen wir sonst nie begegnen würden, und wir sind Menschen, die wir nie sein können. Wir erleben Zeitalter, in denen wir nicht leben, sehen Orte, Ereignisse, Wunder und Nichtigkeiten, und je mehr wir lesen, sehen, hören, desto mehr sind wir jedermann und überall. Nur, daß wir immer wir selbst bleiben.

„In broad daylight, even the sounds shine.“ So wird Fernando Pessoa in Wim Wenders‘ LISBON STORY zitiert, in dem auch der obige Satz an eine Wand gemalt zu sehen ist. Endlich gibt es diesen wunderbaren Film auf DVD, nachdem meine VHS-Kopie vom zigfachen Ansehen nicht ansehnlicher wird. Gesehen habe ich den Film zuerst im WDR, in der Nacht in meinen 20. oder vielleicht 21. Geburtstag hinein, und geblieben ist mir jeder Moment. Die Poesie, mit der die Stadt Lissabon – in der ich nie war – portraitiert wird, durch Klänge erforscht wird, während in flimmernden Sepia-Momenten immer wieder ihr Alltag eingefangen wird, braucht ihre Zeit, sich zu entfalten – wie üblich bei Wenders ist das Erzähltempo getragen.

Aber es lohnt sich immer wieder, mit Toningenieur Phillip Winter auf Entdeckungsreise durch die Stadt zu wandern, ihre Straßenbahnen, Schiffe und Autos zu hören, und dabei die jungen und alten Gesichter zu sehen, die in kurzen Momenten ihre Geschichten erzählen. Und mittendrin die Gruppe Madredeus, deren wehmütiger Fado lange nachhallt, nachdem der Film zu Ende ist. Der Klang der Dialekte und Sprachen ist in die fragmentische Odyssee eingewoben, in der Winter den verschwundenen Regisseur Friedrich Monroe sucht, dessen Film er mit Ton versehen sollte. Besagter Regisseur hat sich beim Versuch, unschuldige Geschichten zu erzählen, fürchterlich verlaufen, und nachdem sein Versuch, mit der 100 Jahre alten Kurbelkamera die Stadt einzufangen, für ihn unbefriedigend erscheint, macht er sich daran, dem Zufall die Motivsuche zu überlassen.

Zum Schluß sitzt Monroe dann in seiner alten Isetta und lauscht Winters eindringlichen Worten, die ihm in ihrer Naivität vermutlich genau die Unschuld vermitteln, die er sucht: „Bewegte Bilder können immer noch genau das: Bewegen.“ Und so kann Monroe wieder jemand ganz Bestimmtes an einem bestimmten Ort sein und seinen Film beenden. So wie Wenders, der wie Winter im Film mit der Stadt verschmolzen zu sein scheint und sie nicht loslassen will.

Es fehlt ein definitives Schlußwort, dem Film wie dem Blog-Eintrag, aber das liegt wohl daran, daß der Fado noch zu hören ist und in seiner Ruhe weiterfließt wie der Tejo in Lissabon.

Lisbon Story (Deutschland/Portugal 1994)
Regie: Wim Wenders
Drehbuch: Wim Wenders
Musik: Jürgen Knieper, Madredeus
Produktion: Madragoa / Road Movies
Darsteller: Rüdiger Vogler, Patrick Bauchau, Madredeus
Länge: 99 Minuten
FSK: 12

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    2 Comments

    1. Vielen Dank für diesen poetischen Eintrag und das meine ich jetzt ganz ohne Zynismus. Ich bin richtig versucht mir die DVD zu krallen und sofort anzusehen. Wenn du von der Produktionsfirma für Werbezwecke angestellt wurdest, dann hat sich das Investment bereits gelohnt. Sofort in mein Büro!
      Was hältst du von meiner Theorie, dass die Filmdose wie eine Konservendose funktioniert? In beiden Fällen wird konserviert und das Produkt ist immer nur eine Kopie des Originals oder durch die Haltbarmachung im Geschmack verfremdet. Oder anders gesagt: Die Fiktion ersetzt die Realität nicht.

    2. Die DVD gibt’s beim Müller für €15 und ist eine durchaus lohnenswerte Anschaffung – wie alle Filme der neuen Wim-Wenders-Edition, die mit Audiokommentaren, interessanten Interviews und mehr aufwarten können. Ich muß mir ja auch noch DER HIMMEL ÜBER BERLIN und PARIS, TEXAS leisten, und im Mai kommt dann das 5-Stunden-Monster BIS ANS ENDE DER WELT. Viel zu tun! — Was deine Theorie angeht: Was ist beim Film das Original? Das Celluloid? Das originale Negativ? Der Geschmack ändert sich durch die Neuauflagen & Konservierung sicher nicht, sondern wird teilweise eher noch verfeinert – man vergleiche die kraftlosen Farben vieler TV-Ausstrahlungen mit den überarbeiteten, teils restaurierten DVD-Auflagen. Ah, oder meinst du, daß der Film die Realität einfängt und somit konserviert? Zu diesem Thema hat LISBON STORY sogar ein paar Anmerkungen. Prinzipiell ist es aber doch so, daß der Augenblick, der eingefangen wird, eigentlich in der Form selten existiert: Er ist ja meistens inszeniert, extra für die Kamera geschaffen.

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