THOR: Gott, Held oder Superheld?

Film / Neuer als alt / 22. März 2018
Chris Hemsworth als Thor

Der nächste Superheld darf vor das kritische Auge von Dr. Wily treten: Nach zwei IRON-MAN-Filmen und einem HULK knöpft sich unser Gastautor diesmal Kenneth Branaghs THOR vor.

Ist Thor ein Gott, ein Held oder ein Superheld? Thor ist zumindest die erste Figur des Marvel Cinematic Universe, die nicht aus eigener Feder stammt, sondern sich auf eine Vorlage bezieht. In der nordischen Mythologie ist Thor der Gott des Donners, ein Ase und Sohn des Allvaters Odin. Er lebt in Asgard, dem Sitz der Götter. Thor ist mutig, besitzt mehr Kraft als andere Götter und kämpft mit seinem Hammer Mjölnir in vielen Schlachten. Sein Bruder ist der hinterlistige Trickser und Formwandler Loki, der ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt und die Götter stürzen will. Das sind im Großen und Ganzen die Elemente der nordischen Göttersagen, die Marvel übernommen und für THOR verwendet hat. Dieser Thor ist die Marvel-Superhelden-Variante des Donnergottes, und es zeigt schön, wie sich Götterfiguren von Heldenfiguren unterscheiden.

Vater und Sohn: Odin (Anthony Hopkins) und Thor (Chris Hemsworth).
Thor (Chris Hemsworth, l.) und sein Vater Odin (Anthony Hopkins).

In THOR macht unser Titelheld, gespielt von Chris Hemsworth, ein klassische Heldenreise durch. Er beginnt als Thronfolger Odins und junger, arroganter Hitzkopf, der sich den Zorn und die Enttäuschung seines Vaters zuzieht. Odin (Anthony Hopkins) verstößt ihn ins Exil nach Midgard, also auf die Erde, entzieht ihm alle Rechte und Thronfolgerwürden und sogar die Macht über sein wichtiges Werkzeug Mjölnir. Nur jemand, der sich als würdig erweist, soll den Hammer des Thor heben können. Thor wird nach New Mexico verbannt, wo er nun Demut und Opferbereitschaft lernen muß, um ein würdiger König zu werden. Zufällig wird auch der Hammer Mjölnir in die neumexikanische Wüste geschleudert, damit nach der Erleuchtung der Weg nicht so weit ist. In New Mexico trifft Thor auf eine Gruppe Astrophysiker um Jane Foster (Natalie Portman) und Dr. Erik Selvig (Stellan Skarsgård), die im Rahmen ihrer Forschungen dort Anomalien entdeckt haben, die Thor durch seine Reise zur Erde hervorgerufen hat. Sie helfen Thor und geraten so ins Visier von S.H.I.E.L.D., der von Nick Fury geführten, ultra-geheimen Behörde zum Schutz der
Menschen und der Erde vor Bedrohungen der außergewöhnlichen und auch
außerirdischen Art. Diese Men in Black der Marvelwelt sind natürlich bemüht, alles möglichst geheim und unter Kontrolle zu halten, obwohl oder vielleicht gerade weil sie selbst nicht wissen, ob Thor Freund oder Feind ist. Sie gehen da gerne mal (wie man später auch in CAPTAIN AMERICA – THE WINTER SOLDIER sehen wird) vom Schlimmsten aus; man könnte auch sagen: Ihr Handeln ist sehr von Angst bestimmt, und da machen sich Leute wie Jane, die mit diesen Aliens fraternisieren und innerhalb kürzester Zeit mehr Information gesammelt haben als die Behörde selbst, natürlich verdächtig. Jane und Thor dürfen sich verlieben, eine zwar herzig gespielte, aber emotional wenig nachvollziehbare Liebesgeschichte (was auch den Machern aufgefallen sein dürfte, wenn man betrachtet, wie sie in die nachfolgenden Filme eingebaut wurde), während Dr. Selvig hier zwar noch als Randfigur agiert, aber in zukünftigen Filmen eine sehr bedeutende Rolle bekommen wird.

Thor ist also der klassische Held, der Prüfungen durchlaufen, Niederlagen erleiden und Opfer bringen muß, um am Ende als veränderter und besserer Mensch daraus hervorzugehen. Er steht damit im Gegensatz zu seinem mythologischen Vorbild, das in seinen Geschichten keine Charakterveränderung durchmacht, weil das auch gar nicht so gedacht war. Götter dienten zur Erklärung der Welt, die wahrgenommen werden konnte, und zur Vorstellung, wie diese entstanden sein könnte. Sie standen für die Auseinandersetzung zwischen Natur und Kultur. Der Natur, der die Menschen ausgesetzt waren, schrieben die Menschen Leben zu, indem sie Geschichten erfanden. Genau deshalb konnten diese alten Götterfiguren zwar schon menschliche Eigenschaften haben (gerade Hinterlist und Unehrlichkeit waren bei den nordischen Göttern sehr beliebt), aber eine Charakterveränderung war nicht im Sinne der Erfinder. Die Götter waren für etwas anderes da. Als Vorbilder für die persönliche Entwicklung der Menschen, dem Streben nach Idealen im Angesicht der realen Unvollkommenheit, dienten eher die Heldengeschichten. So würde ich die Superhelden weniger als neue Götter oder moderne Göttersagen sehen, sondern als aktuelle Varianten der Heldenreisen. Charakterlich sind sie alle wie wir, sie haben nur die eine oder andere sehr besondere Fähigkeit (meist sehr große Körperkraft).

Thor und Jane
Jane (Natalie Portman) und ihr Tarzan, äh, Thor (Chris Hemsworth).

THOR ist das gestiegene Selbstbewußtsein der Marvel Studios anzusehen. Mit Anthony Hopkins und Natalie Portman stehen gleich zwei Oscarpreisträger in der Cast und mit dem mehrfach ausgezeichneten und oscarnominierten Kenneth Branagh erstmals ein Star-Regisseur hinter der Kamera (ein Modell, das bei Marvel keine rechte Zukunft hatte). Es ist der bis dahin cineastischste Film der Reihe. Wenn Branagh etwas kann, dann Pathos, Gravitas und Epos. All das steht THOR sehr gut. Große, farbenprächige Bilder der goldenen Phantasiestadt Asgard und der Regenbogenbrücke Bifröst stehen im Gegensatz zu der weiten Leere New Mexicos. Den Vater-Sohn-Konflikt rund um Odin, Thor und Loki, der Thors Verbannung hinterrücks eingefädelt hat, um selbst auf den Thron zu kommen, inszeniert der Shakespeare-Experte Branagh, als wäre es ein Stück des großen Dichters. Tom Hiddleston ist als Loki die große Entdeckung des Films: Die Rolle hat ihn berühmt gemacht, und es ist spannend zu sehen, wie er hier noch vollkommen ernst gezeichnet wird. Der Humor wird ihm erst von Joss Whedon in THE AVENGERS eingeimpft. In THOR ist er ein verletztes und rachsüchtiges Kind, das über den Schmerz nicht hinwegkommt, daß man ihn in Bezug auf seine Herkunft belogen hat. Der Haß bringt ihn dazu, den König töten zu wollen.

In Asgard spielt sich also das große Drama ab, auf der Erde darf es auch witzig zugehen. Alles, was später in THOR – TAG DER ENTSCHEIDUNG beinahe Selbstparodie ist, ist hier im Humor schon angelegt. So sehr sich Thor und Tony Stark charakterlich ähneln und so vergleichbar auch ihre Entwicklung laufen muß, so unterschiedlich blicken ihre jeweiligen Filme auf sie. Wo die IRON-MAN-Filme Tony Stark nie ein Schwäche zugestehen, wird Thor hier immer wieder die Luft herausgelassen und lächerlich gemacht. Oft entsteht der Humor durch die Diskrepanz zwischen Thors altmodischem, ritterlichem und pathetischem Auftreten und der sehr trockenen, pragmatischen Reaktion der Menschen. Etwa wenn Thor im Krankenhaus tobt, weil das Personal es wagt, ihn, den unbesiegbaren Sohn Odins, anzufassen, und die Pfleger ihm kurzerhand eine Spritze mit Schlafmittel in den Hintern jagen, woraufhin er sofort umkippt. THOR ist so auch involvierender als Geschichte. Er muß tatsächlich akzeptieren, vielleicht nie wieder nach Hause zurückkehren zu können, er lebt in dem Glauben, den Tod seines Vaters auf dem Gewissen und seine Heimat Feinden ausgesetzt zu haben. Am Ende opfert er auch seine Beziehung zu Jane, um Asgard vor dem Untergang zu bewahren. Sein Fall ist weit tiefer als der von Tony Stark.

Nicht mehr nur ein Gastauftritt: Agent Phil Coulson (Clark Gregg).

Filmübergreifend zieht mittlerweile alles in Richtung THE AVENGERS. Wir lernen kurz Hawkeye (Jeremy Renner) kennen, einen sehr menschlichen Superhelden im Dienste von S.H.I.E.L.D. mit sehr beeindruckenden Pfeil-und-Bogen-Fertigkeiten. S.H.I.E.L.D. sind erstmals für die Handlung relevante Antagonisten von Jane Foster und ihrer Entourage, und Agent Phil Coulson (Clark Gregg), dem in THE AVENGERS eine elementare Rolle zukommt, wird nach seinen Auftritten bei IRON MAN zur vollwertigen Nebenfigur. In der Post-Credits-Sequenz bekommen wir den ersten Hinweis darauf, wohin diese erste Phase des Marvel Cinematic Universe gehen könnte. Das ganz große Faß machen Marvel aber dann erst in CAPTAIN AMERICA – THE FIRST AVENGER auf.

Post-Credits: Es gibt eine sehr schöne Sequenz, in der der Film eine Verbindung zu den alten Mythen herstellt, auf die unser Marvel-Thor zurückgeht. Der große Schlußkampf spielt sich auf dem Bifröst in Asgard ab. Während der Action- und Kampfszenen schneidet Branagh immer wieder auf die Erde und zeigt uns, wie dieser Kampf für Jane und ihre Freunde aussieht. Die stehen in der Wüste und beobachten ein stürmisches Gewitter in den Wolken. Hier kommen für kurze Zeit der Gott Thor und der Superheld Thor zusammen.

Dr. Wilys weitere Betrachtungen zum Marvel Cinematic Universe auf Wilsons Dachboden:
IRON MAN: Der gemachte Superheld
DER UNGLAUBLICHE HULK: Lustfeindlichkeit und schiefgegangene Experimente
IRON MAN 2: Größer, höher, weiter und mit Nachdruck 
BLACK PANTHER: Eine repräsentative Utopie



Thor (USA 2011)
Regie: Kenneth Branagh
Buch: J. Michael Straczynski, Mark Protosevich, Ashley Edward Miller, Zack Stentz, Don Payne
Kamera: Haris Zambarloukos
Musik: Patrick Doyle
Darsteller: Chris Hemsworth, Natalie Portman, Tom Hiddleston, Anthony Hopkins, Stellan Skarsgård, Kat Dennings, Clark Gregg, Colm Feore, Idris Elba

Alle Bilder (C) Paramount.






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Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.





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