SCHIMPF 0221-19717: Der gemütliche Nachmittagsplausch

Film / TV / 6. Januar 2017
Björn-Hergen Schimpf im Studio von SCHIMPF 0221-19717

Es war ein liebgewonnenes Ritual meiner Schulzeit: Dank ausufernder Bustouren durch das oberbayrische Hinterland, bei dem einsame Schüler an noch einsameren Haltestellen abgesetzt wurden, deren Namen auf -eck und -ham endeten, dauerte es oft bis kurz vor 2, bis ich mittags endlich zuhause war. Meine Eltern arbeiteten tagsüber, also glitt ich freudig in den Fernsehsessel, um den Geist von den Prüfungen meiner bewegten Schulkarriere – dadaistische Lateinübersetzungen, antiolympische Leistungen im Sportunterricht, konzentrationshemmende Anwesenheit liebreizender und ganz und gar heimlich angebeteter Mitschülerinnen – befreien zu können. Pünktlich um 14.03 Uhr begann jeden Werktag im ARD die 25-minütige Talkshow SCHIMPF 0221-19717 (kurz auch SCHIMPF 19717), in der Moderator Björn-Hergen Schimpf gemütlich über Gott und die Welt plauderte.

Bis auf das Team war er alleine im Studio: Seine Gesprächspartner waren Zuseher, die von zu Hause aus bei ihm anriefen, und er schaltete sie über eine kleine Konsole hinzu. Solche Call-In-Shows waren Mitte der Neunziger recht beliebt – zumindest bei den Sendern: Es kostet ja beinahe nichts, das zu produzieren, und das Mitteilungsbedürfnis der Menschen hatte noch kein Ventil durch Internet und soziale Medien gefunden. Auf Premiere – das hatten wir natürlich damals nicht – gab es den 0137 NIGHT TALK mit Bettina Rust, bei VOX plauderte Thomas Aigner in TALKLINE, und RTL schickte Joachim Steinhöfel ins Streitgespräch mit den Anrufern von ACHTZEHN 30 – DAS TELEFON-THEMA.

Gestritten wurde bei Schimpf nicht. Im Gegenteil: Es war die pure Entspannung, ihm beim Plausch zuzusehen. Zu Beginn goß er sich eine Tasse Kaffee ein, an der er während der Gespräche nippte. Er setzte sich in seinen Sessel, dann ging er ein wenig vor dem Schreibtisch auf und ab. Die Themen waren vielfältig und völlig alltäglich: Mal ging es um die Ladenschlußzeiten, ein anderes Mal um Liebeskummer, und Schimpf nahm alles entgegen seines Namens ganz locker. An der Studiowand suggerierten vier Uhren die große weite Welt, aber sie waren mit „Oberammergau“, „Eisenhüttenstadt“ und „Winsen/Luhe“ beschriftet – letzteres übrigens Schimpfs Geburtsort. Daneben hatte man Fensterblick auf Köln – aber das Fenster war nur ein Bildschirm.

Björn-Hergen Schimpf vor den Wanduhren
Von Oberammergau bis Eisenhüttenstadt: Björn-Hergen Schimpf spricht mit Deutschland.

In einer Sendung vom August 1994, die ich noch auf Band habe, geht es um das Thema „Fitneßwahn“. Die Kaffeetasse muß ruhen, weil Schimpf während der Gespräche einen orangefarbenen Handmuskeltrainer quetscht. Viel Debatte kann um das Thema herum nicht entstehen, zumal eine Anruferin namens Ursula schon recht früh Worte findet, denen man beinahe nichts mehr hinzufügen möchte: „Alles, was übertrieben ist, das ist doch extrem.“

Die meisten Anrufer haben mehr Redebedürfnis als Schimpf Sendezeit. Außerdem gehen manche recht assoziativ an das Thema heran: Es wird schon irgendwie passen, was sie sagen. Der Gemütlichkeit tut dies keinen Abbruch: Schimpf steuert seine Gesprächspartner souverän zum Thema zurück und hakt fleißig ein, um den anrufenden älteren Damen das Monologisierungsmonopol zu entziehen. „Ich bin 54, ja …“, setzt eine an, aber da ist er großzügig: „Kein Problem.“

Ein Offenbacher erzählt im breitesten Dialekt, wie sich die Mädels im Fitneßstudio so anziehen, „daß man jede Rundung sieht“, und sich dann an der Theke beschweren, daß ihnen die Männer hinterherschauen. Da hält er es lieber mit dem guten alten Winston und verzichtet auf den Sport. Ein 12-jähriger Junge namens Aaron dagegen berichtet stolz, daß er täglich 500 Meter mit dem Fahrrad fährt. Worum ging es doch gleich?

Mehr Diskussionsbedarf besteht in einer anderen Sendung aus demselben Zeitraum, die ebenfalls in den schier unendlichen VHS-Archiven von Wilsons Dachboden schlummert: Da will Schimpf über eine Steuer reden, die die Stadt Kassel auf die Wegwerfutensilien der Würstchenbuden erhoben hat. Dürfen die das? Und wollen wir das? Bei dem Thema ist Schimpf so in Fahrt, daß er beinahe die Einleitung zur Sendung vergißt: „Hab‘ ich schon ‚Guten Tag‘ gesagt?“

Moderator Björn-Hergen Schimpf
„Schmeckt wie Oblaten“: Björn-Hergen Schimpf ist von den Qualitäten des eßbaren Geschirrs nicht überzeugt.

In der Debatte tauchen tatsächlich Ideen auf. Christine aus Mettmann ist für eßbares Geschirr: „Wir sind zwar mündige Bürger, aber irgendwie müssen wir doch erzogen werden“, meint sie. Erika aus Wiesbaden mag offenbar keine Pappteller essen und setzt stattdessen lieber auf Pfandgeschirr oder solches, das sie selber mitgebracht hat.

Ein kleiner Junge namens Stefan hat die perfekte Lösung: „Wenn die Steuer erhoben wird, dann aber nur auf die Unternehmen, die die Verpackung erst überhaupt herstellen“. Den Einwand, daß die Budenbesitzer die Steuer dann nur durch teurere Würstchen an den Verbraucher weitergeben würden, läßt Stefan im Glauben an die Macht des Konsumenten nicht gelten: „Dann kauf ich halt keine mehr, und wenn er das macht, dann geht das Geschäft zugrunde und dann kann er seinen Mercedes erst recht nicht kaufen.“

Willi aus Schöningen findet, das eßbare Geschirr muß erstmal geschmacklich verbessert werden. „Ich krieg‘ langsam Hunger bei dem Thema“, grinst Schimpf. Manchmal verschenkt er an Anrufer, die ihm besonders sympathisch sind, eine Kaffeetasse mit Käpt’n-Blaubär-Motiv – aber heute mag er wohl nicht. Ein Zuseher namens Hansjörg hat ganz visionäre Lösungsvorschläge: Die Menschheit muß eben „wirklich mal Dinge erfinden und bauen, die wirklich langfristig einsetzbar sind“. Schimpf bleibt lieber in seinem 25-minütigen Tagesprogramm: „Gut, das war ein Ausflug in die Zukunft.“

Ralf aus Dortmund ekelt sich vor dem Einsatz von Porzellangeschirr, das womöglich in der Bude nur halb abgespült wird. Schimpf meint, daß Ralfs Mutter sicher früher auch noch mit der Hand abgewaschen hat. „Meine Mutter hat das ja noch halbwegs korrekt gemacht“, stellt Ralf klar. Aber in so einer Currywurstbude? „Da springt dir sofort der Herpesvirus vom Nachbarn entgegen.“ Man ahnt, warum Premiere-Sprecher André Schirmer 1994 dem Focus erklärte: „Irgendwie sind Call-In-Sendungen auch ein Stück Reality-TV.“

Ein paar Mal probierte ich auch, anzurufen und am Gespräch teilzunehmen. Ich weiß leider nicht mehr, zu welchen Themen. Irgendwann 1995 setzte der ARD die 1993 gestartete Sendung ab, und meine Nachmittage mußten ohne Plausch auskommen (und begannen dafür gleich mit einem Video). Über 20 Jahre später fällt mir SCHIMPF immer noch ein, wenn es darum geht, wie sympathisch unaufgeregt Fernsehen sein kann. „So würde man heute nie im Leben mehr eine Talk-Sendung aufziehen“, sage ich dann und nippe dazu weltmännisch an meiner Tasse Kaffee.

Die Screenshots stammen von einer Videoaufzeichnung der Sendung vom 5. Juli 1994, (C) ARD.






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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