FilmRetrospektive

CITY WOLF: Ein lässiger Todesengel revolutioniert das Actionkino

Die Rache an der Bande, die seinen Freund Ho verraten hat, sucht der Gangster Mark im Alleingang. Er überrascht die Bandenmitglieder in einem Restaurant, wo sie ausgiebig feiern, und richtet sie mit nicht endenden Salven von Pistolenschüssen. Von links, von rechts, von hinten kommt Verstärkung angelaufen, aber Mark hat die Lage im Griff. Vor dem Massaker hat er zusätzliche Waffen in den Blumentöpfen des Lokals versteckt, und so kann er beidhändig immer weitere Gegner niederstrecken, ohne sich um die Munition Gedanken machen zu müssen. Aber er übersieht einen der verwundeten Männer, der am Boden entlangkriecht und ihm von hinten eine Kugel durch das Knie jagen kann. Mit tiefroter Blutspur zieht Mark sein kaputtes Bein hinter sich her, um dem Verräter direkt in den Kopf zu schießen.

Manchmal reicht eine einzelne Szene aus, um zu zeigen, wie die beteiligten Personen die Filmgeschichte nachhaltig verändert haben. Das brutale und doch so sorgfältig choreographierte Schußwaffenballett der oben beschriebenen Sequenz ist eine davon: Die Gewalt ist hart und dreckig und doch mit perfektem Timing und einer Dynamik aus Zeitlupen und ganz schnellen Aktionen virtuos stilisiert; das Bild des in den beiden Händen bewaffneten Mark wirkt wie eine Ikone tödlicher Coolness; und mit ihrer thematischen Einbindung in ein Drama um Freundschaft, Rache und Verrat ist die Szene noch dazu emotional packend. Vor dem 1986 erschienenen A BETTER TOMORROW war John Woo ein wenig beachteter Regisseur von Kung-Fu-Streifen und Komödien, sein Star Chow Yun-Fat ein belächelter Seifenoper-Schönling. Nur wenig später war Woo Hongkongs wohl bekanntester Regisseur und die große Actionhoffnung der Kinowelt, Chow ein vielbeschäftigter asiatischer Megastar, und der Film ein Startschuß für ein Genre, das später „Heroic Bloodshed“ getauft wurde, und Wegbereiter für die zweite große Hong-Kong-Welle im Rest der Welt.

Zwei Brüder, zwei Seiten des Gesetzes: Kit (Leslie Cheung, links) und Ho (Ti Lung).

Es ist vielleicht heute, wie bei allen immens einflußreichen Werken, nicht mehr auf Anhieb ersichtlich, was damals so außergewöhnlich an Woos Inszenierung war – zu oft wurde sein Stil mittlerweile zitiert, kopiert, übertrumpft und adaptiert. Quentin Tarantino war wohl der erste westliche Filmemacher, der sich hemmungslos bei Woo bediente; später fingen auch andere US-Regisseure an, diese hochstilisierte Action zu übernehmen. Um es plakativ, aber nicht ganz falsch zu sagen: Ohne Woo kein RESERVOIR DOGS, kein DESPERADO, kein TOMORROW NEVER DIES und keine MATRIX.

(Freilich war war Woo in seinem Heimatland nicht ganz alleine: Mitte der Achtziger fanden sich dort einige Filmemacher, die neue Wege fanden, die Kinetik der Leinwand hochzuschrauben – zum Beispiel Tsui Hark, der mit ganz entfesselter Kamera arbeitete und schon mit PEKING OPERA BLUES auf sich und das neue Hongkong-Kino aufmerksam gemacht hatte – und wohl nicht zufällig als Produzent von A BETTER TOMORROW fungierte -, oder der Actionchoreograph Ching Siu-Tung, dessen Fantasytrip A CHINESE GHOST STORY – ebenfalls von Tsui produziert – mit so viel visueller Energie erzählt war, daß es wie Magie anmutete. Als vierter im Bunde mag noch Ringo Lam gelten, dessen CITY ON FIRE sich merklich in Tarantinos Debüt eingenistet hat.)

Ho (Ti Lung, links) sucht vergeblich Vergebung bei seinem Bruder Kit (Leslie Cheung).

Der Grund aber, warum A BETTER TOMORROW – in der deutschen Fassung mutierte der Titel zum kernigeren, aber sinnfreien CITY WOLF – so einschlug und heute als Klassiker über all seinen Derivaten thront, ist die Tatsache, daß Woo sein Action-Feuerwerk in ein packendes Drama einbaut. Tatsächlich gibt es nur fünf Actionszenen in dem Film, und die fungieren als Zuspitzung der Story, die mit manchmal opernhafter Dramatik die Geschichte zweier Brüder erzählt – Kit, dem jüngeren, einem Polizisten, und Ho, dem älteren, einem Triadenmitglied. Ho will seinem Vater zuliebe sein Leben ändern, wird aber bei seinem letzten Auftrag verraten und wandert ins Gefängnis. Kit ist schockiert, als er erfährt, daß der Bruder, zu dem er aufgeblickt hat, ein Verbrecher ist – und als im Zuge des Verrats auch der Vater ermordet wird, kann Kit seinem Bruder nicht mehr verzeihen. Nach drei Jahren kommt Ho aus dem Gefängnis und versucht vergeblich, seinen Bruder von seinem Lebenswandel zu überzeugen – während er immer wieder in die Auseinandersetzungen mit dem neuen Triadenchef hineingezogen wird, der ihn damals verriet und dem Kit mittlerweile auf den Fersen ist.

Es mutet beinahe wie ein klassischer Stoff an, wie hier mit gewichtigen Themen operiert wird: Es geht um Ehre, Freundschaft und Familie, um Loyalität und Verrat, um Fehltritte und Vergebung. Daß daraus kein Kitsch wird, liegt zum großen Teil an den sorgfältig gezeichneten Charakteren, die mit guten Gründen agieren – das Drama entsteht nicht, weil es über sie gestülpt wird, sondern weil es wie in der klassischen Tragödie aus ihrer Konstellation heraus entwachsen muß. Woo läßt seine Figuren tief fallen: Aus dem naiven, unschuldigen Polizeianwärter Kit wird ein besessener Kämpfer gegen das Verbrechen, der seinem Bruder so wenig verzeihen kann, daß er ihn sogar selber verhaften will; aus dem angesehenen Gangster Ho wird ein verstoßener Ex-Sträfling, der froh sein muß, daß er als Taxifahrer Geld verdienen kann; und aus Mark, Hos bestem Freund, wird ein armer Krüppel, der den Triadenchefs das Auto putzt und das Geld dafür vom Boden aufheben muß.

Mark (Chow Yun-Fat) will sich seinen Platz in der Welt zurückerobern.

Die Action entwickelt sich organisch aus der Handlung heraus: Marks eingängig zitierter Rachefeldzug hat deswegen Gewicht, weil er ihn aus Loyalität zu seinem verratenen Freund Ho begeht und selber keinen Gewinn davonträgt – im Gegenteil, er riskiert die Selbstaufopferung und wird zum Invaliden geschossen. Und wo im Ballett Pirouetten gedreht werden und die Oper mit mächtigem Orchester und eindringlichen Arien ihr Drama zuspitzt, läßt Woo eben die Pistolen tanzen und das Blut kraftvoll die Szenerie einfärben.

Wenn wir vorhin schon von Einflüssen geredet haben, müssen wir fairerweise das Netzwerk auch in die andere Richtung aufdröseln: nämlich in Blickrichtung zu den Regisseuren und Filmen, die in A BETTER TOMORROW ihre Spuren hinterlassen haben. Im Prinzip ist es nur fair, daß Woos Stil später nach Hollywood wanderte – er selber ist nämlich hochgradig von Westernregisseur Sam Peckinpah beeinflußt, dessen Zeitlupenästhetik und ästhetisierte Gewalt hier deutlich durchscheinen. Auch die Gangsterromantik eines Martin Scorsese ist nicht weit, wenn die Triadenmitglieder als Helden unserer Geschichte fungieren und das schöne Leben genießen, bevor es gewaltvoll endet. Überhaupt merkt man eine Liebe zum Gangsterkino, ob für die alten James-Cagney-Streifen und ihre charismatischen Gesetzesbrecher oder für Jean-Pierre Melvilles DER EISKALTE ENGEL, aus dem Woo Alain Delons Look für den von Chow Yun-Fat übernahm.

Mark (Chow Yun-Fat, links) und Ho (Ti Lung, Mitte) im Streit mit Kit (Leslie Cheung).

Nicht nur für den Actionvirtuosen Woo und den lässigen Todesengel Chow war A BETTER TOMORROW der Durchbruch. Auch der sensibel wirkende Leslie Cheung spielte sich als junger Kit in die Star-Riege Hong Kongs. Cheung war schon als Kantopop-Sänger berühmt und hatte auch in einigen Filmen mitgespielt, aber erst nach A BETTER TOMORROW rückte seine Schauspielkarriere in den Vordergrund. Er spielte die Hauptrolle in dem schon erwähnten A CHINESE GHOST STORY und war später auch in Arthouse-Filmen wie HAPPY TOGETHER von Wong Kar-Wei und LEBEWOHL, MEINE KONKUBINE von Chen Kaige zu sehen, bevor er sich tragischerweise 2003 im Alter von nur 46 Jahren aufgrund von Depressionen das Leben nahm.

Rückblickend betrachtet ist der spannendste Schauspieler im Ensemble aber eigentlich Ti Lung, der den älteren Bruder Ho spielt. Ti war schon Anfang der Siebziger als Star in diversen Shaw-Brothers-Produktionen wie Chang Chehs DAS SCHWERT DES GELBEN TIGERS zu Ruhm gekommen, befand sich aber in den Achtzigern in einem Karrieretief, bevor ihm Woos Film wieder Aufwind gab. Vielleicht gab Ti seiner Rolle ein wenig eigene Erfahrung mit – wie Ti selber zu diesem Zeitpunkt ist Ho jemand, der viel bessere und glanzvollere Zeiten erlebt hat und nun um Respekt kämpfen muß. So oder so hält er den Film als Zentrum zwischen dem coolen Chow und dem naiven Hitzkopf Cheung emotional zusammen: Schon seine Augen sprechen Bände in der Szene, in der er Stolz und Schmerz herunterschlucken muß, weil sein Bruder von ihm fordert, mit „Sir“ angesprochen zu werden.

Ho (Ti Lung) bereut seine Vergangenheit, der er nicht so leicht entfliehen kann.

Bezeichnend für die Themen, zu denen Woo immer wieder zurückkehren sollte, ist der chinesische Originaltitel, der sich in etwa mit den Worten „Das wahre Wesen eines Helden“ übersetzen läßt. Es mag zynisch erscheinen, Killer und Gangster als Helden zu bezeichnen – aber es steckt eine im Kern ganz optimistische und zutiefst menschliche Sicht dahinter: Woos Figuren sind alles andere als makellos, und sie machen Fehler. Der bessere nächste Tag des englischen Titels bleibt für sie unsicher, weil die Vergangenheit sich nicht einfach abstreifen läßt – aber sie haben Werte, nach denen sie leben wollen, und sie können ihr eigenes Wohl diesen Werten unterordnen.

Woo ließ dem Film eine überflüssige und uneinheitliche Fortsetzung folgen, bevor er mit dem meisterhaft stilisierten THE KILLER, dem bitteren BULLET IN THE HEAD und dem wahnwitzigen HARD BOILED seinen Ruf als Erneuerer des Actiongenres festigen konnte und dann nach Hollywood eingeladen wurde, wo er das Versprechen dieser vier Filme nur einmal beinahe einlösen konnte – mit dem Over-the-Top-Duell Travolta vs. Cage in der Actionoper FACE/OFF. Seine Kompromißlosigkeit konnte er aber in Amerika nie ausspielen, und an die emotionale Intensität seiner Hong-Kong-Filme kam er nicht annäherend heran. Es war nicht Woos Schuld: Den anderen chinesischen Filmemachern erging es ähnlich, und die filmische Revolution, die sich am Horizont abzeichnete, versickerte um die Jahrtausendwende herum in China wie in Amerika in inszenatorischem Leistungssport und erzählerischer Stagnation.

Das Wissen um die Ernüchterung, die irgendwann folgen sollte, ändert nichts an den Qualitäten dieses Films. A BETTER TOMORROW ist nach wie vor ein packendes, intensives Drama, dessen präzise choreographierten Gewalteruptionen noch immer Kraft haben, dessen stilistische Sicherheit noch immer Anziehungskraft besitzt. Der Film pulsiert voller Leben.

 

City Wolf (Hongkong 1986)
Englischer Titel: A Better Tomorrow
Regie: John Woo
Buch: Chan Hing Kai, Leung Suk Wah, John Woo
Kamera: Wong Wing Hang
Musik: Joseph Koo
Produktion: John Woo, Tsui Hark
Darsteller: Ti Lung, Chow Yun-Fat, Leslie Cheung, Emily Chu, Lee Chi Hung, John Woo, Kenneth Tsang

Alle Screenshots wurden von der DVD (C) 2001 Laser Paradise genommen.

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

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