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VORSICHT NACHBARN: Ein Voice-Over für Blinde

Voice-Over-Erzählungen werden bei Filmen gerne als Krücke angesehen – ein Behelf, um das zu erläutern, was Bilder, Plot, Schauspieler und Schnitt nicht von alleine schaffen. In der Tat wird so ein Erzähler auch gerne als Notlösung eingesetzt, wenn alles andere versagt – wenn die Filmemacher im Schneideraum feststellen, daß die Teile einfach nicht aneinanderpassen wollen, daß die Zuseher einfach nicht die nötige Info aus dem Gezeigten ziehen können. Dabei kann das Voice-Over, richtig eingesetzt, als wichtige Erzählebene fungieren – in STAND BY ME beispielsweise formt der Erwachsenenblick eine Erzählung aus der Jugend und sorgt gerade mit seiner narrativen Klammer für zusätzliches Gewicht.

In VORSICHT NACHBARN werden wir permanent von einem Erzähler begleitet, der eine knappe Spur über einem Hörspielsprecher agiert. Der gute Mann plaudert, als wäre jeder Zuseher blind. Das darf er offenbar, weil die Geschichte auf Büchern von ihm basiert – es handelt sich um den Autor Jean Shepherd, der bezeichnenderweise schon als Radiosprecher gearbeitet hat und in Amerika mit einer Buchreihe über seine Kindheitserinnerungen bekannt wurde. Der Kanadier Bob Clark (PORKY’S) adaptierte 1983 Geschichten von Shepherd zu dem Film FRÖHLICHE WEIHNACHTEN, der allgemein als sehr beliebt und wohlig-nostalgisch gilt (was ich bislang nicht überprüfen konnte und dank des vorliegenden Films auch noch eine Zeitlang vermeiden werde).

Kieran Culkin auf der Jagd nach dem perfekten Kreisel.

VORSICHT NACHBARN, im Original entweder MY SUMMER STORY oder IT RUNS IN THE FAMILY, fungiert quasi als Fortsetzung zu diesem Weihnachtsklassiker und erzählt ebenso ein Kindheitsabenteuer, das ungefähr 1940 angesiedelt ist. Weil dieses Sequel erst 1994 entstand, wurden sämtliche Rollen außer einer nur kurz auftauchenden Lehrerin neu gecastet: Charles Grodin und Mary Steenburgen spielen die Eltern, während Kieran Culkin und Christian Culkin als neunjährige Hauptfigur und dessen jüngerer Bruder zu sehen sind. Beide wurden damals sicherlich als Ersatz für Kinderstar Macauley Culkin (KEVIN ALLEIN ZU HAUS) gecastet – und wer bislang noch nichts von Macauleys Bruder Christian gehört hat, darf beruhigt sein: VORSICHT NACHBARN blieb sein einziger Film.

Der Film ist vignettenhaft erzählt: Der kleine Ralph (Kieran Culkin) verbringt den Sommer damit, nach einem perfekten Spielzeugkreisel zu suchen, um gegen ein Kind aus der Nachbarschaft auftrumpfen zu können. Außerdem will er unbedingt mit seinem Vater angeln gehen. Der ist mit einem Kleinkrieg gegen seine Nachbarsfamilie beschäftigt, während die Mutter auf einen Händler hereingefallen ist, der ihr ein Abo für eine Geschirrserie mit verschiedenen Hollywood-Motiven angedreht hat und jetzt immer nur dieselbe Sauciere liefert. Der kleine Bruder Randy macht … ähm … nichts. Ich erinnere mich, daß er in einer Szene Haferbrei ißt.

Keine Ahnung, was Charles Grodin da macht, aber der Erzähler
wird es uns sicher gleich erklären.

Eine solch lose arrangierte Handlung könnte in den richtigen Händen durchaus reizvoll sein – hier wartet man eigentlich nur darauf, daß endlich der Film losgeht, und merkt nach ungefähr zwanzig Minuten, daß das nie passieren wird. Beständig plappert Jean Shepherd als erwachsener Erzähler über die Szenen wie der nette Onkel bei der Familienfeier, der einfach nie beim Thema bleiben kann und stets mit voller Wortgewalt das Offensichtlichste bemerkt. Beispiel gefällig? Ralph fährt mit seinem Vater angeln. Der Sprecher plaudert: „Als wir fast auf der Mitte des Sees waren, traute ich meinen Augen nicht: Sie fischten alle am selben Fleck.“ Wir sehen viele Boote eng nebeneinander im Wasser. Der Vater wirft den Anker, der Erzähler berichtet: „Ohne zu schauen warf er den Anker, worauf zwei Männer ins Wasser fielen“. Wir sehen zwei Männer ins Wasser fallen.

In einer anderen Szene sitzt Ralphs Mama bei einer Verkaufsveranstaltung des schwindigen Händlers Leopold Doppler, und das Voice-Over plappert:

„Und dann passierte es: Ein schwarzer Schatten flog durch den schwarzen Strahl des Scheinwerfers. Volltreffer! Meine Mutter hatte Doppler mit einer Sauciere getroffen – was für eine tolle Idee! Die Damen waren sprachlos ob dieser Verwegenheit. Doch dann kam ihnen blitzartig, wie recht sie doch hatte. Natürlich! Leopold Doppler sollte von einer Sauciere getroffen werden. Er sollte eigentlich von so vielen Saucieren getroffen werden, wie da waren. Und dann taten sie es! Die Leute standen gleichzeitig auf und bewarfen Leopold Doppler mit Saucieren. Damit waren die großartigen Zeiten für Leopold Doppler vorbei.“

Warum haben sich die Filmemacher eigentlich überhaupt die Mühe gemacht, extra noch Bilder einzufangen?

Nach EIN HUND NAMENS BEETHOVEN und der Fortsetzung
wollte Charles Grodin endlich mal wieder was anderes machen.

Die ermüdende Erzählung, die einen keine zwei Filmminuten in Ruhe läßt, reicht schon, um den Film in unendliche Längen zu ziehen. Aber selbst davon abgesehen ist VORSICHT NACHBARN eine kleine Katastrophe: Charles Grodin, sonst mit seinem trockenen Humor so witzig (siehe MIDNIGHT RUN oder FAST WIE IN ALTEN ZEITEN), grimassiert sich durch vermeintlich witzige Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, als hätte niemand einen Plan gehabt, wie die Rolle angelegt werden soll. Die erzählten Vignetten sind ohne Pfiff, ohne Charme und ohne narrativen Rhythmus zusammengeschustert. Obwohl die Story Anfang der Vierziger spielt, kommt keinerlei Zeitgefühl auf.  Und von zündendem Witz ist der Streifen sowieso meilenweit entfernt.

Nach diesem Film machte Charles Grodin übrigens 12 Jahre Pause als Schauspieler. Es ist eine verständliche Reaktion.



Vorsicht Nachbarn (USA 1994)
Originaltitel: My Summer Story / It Runs in the Family
Regie: Bob Clark
Buch: Jean Shepherd, Leigh Brown, Bob Clark
Kamera: Stephen M. Katz
Musik: Paul Zaza
Darsteller: Charles Grodin, Mary Steenburgen, Kieran Culkin, Christian Culkin, Al Mancini, Troy Evans, Glenn Shaddix, Tedde Moore, Chris Owen

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    2 Comments

    1. Charles Grodin kann einem wirklich leid tun. In "Midnight Run" war er ein ebenbürtiger Partner für Robert de Niro, aber nicht mal zehn Jahre später musste er den Straight Man gegenüber einem Bernhardiner oder einem schlecht auf Kind geschminkten Martin Short geben. Und dann auch noch das hier? Bessere Männer wurden durch weniger gebrochen. Behaupte ich mal ohne Beispiele zur Hand zu haben.

      Zu dem in den USA offenbar grenzenlos geliebten "A christmas story" hatten die Jungs von Cracked.com ein paar Worte, die ihn etwas weniger nostalgisch aussehen lassen:

    2. Mit "ebenbürtig" machst du einen sehr guten Punkt. Grodin war eigentlich immer eher der "Straight Man" – die anderen waren die Auffälligen, die Verrückten – aber in den guten Streifen ist er eine gleichberechtigte Figur neben den anderen.
      Die Website "The Dissolve" lobpreist übrigens gerade Grodins Spiel in MIDNIGHT RUN: hier.

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