Interview: Enzo G. Castellari

Uncategorized / 23. August 2003

Das folgende Interview mit dem italienischen Regisseur Enzo G. Castellari fand per eMail statt. Es wurde im Rahmen der Recherchearbeit zu dem Essay „Das US-amerikanische Kino. Plagiat, Remake oder Standard?“ geführt – veröffentlicht 2004 im Tagungsband ONE AMERICA – MANY AMERICAS (LIT Verlag) – weshalb sich das Interview größtenteils um die Beziehung zwischen italienischem und amerikanischem Kino dreht.

Wie würdest du die italienische Filmindustrie charakterisieren?

Die italienische Filmindustrie war die erste der Welt. Sie hatte ihre Höhen und Tiefen, aber sie blieb künstlerisch gesehen eine sehr wichtige Industrie. Viele große „Lehrer“ haben die Welt des Kinos beeinflußt: De Sica, Visconti, Fellini, Rossellini … jetzt sind diese großen Meister weg …

Was macht sie einzigartig?

Die wichtigste Periode unserer Kinokunst war der „Neorealismus“. Das Besondere daran war, arme Leute und Geschichten mit Amateurschauspielern, die WIRKLICHKEIT auf die große Leinwand zu bringen. Eine Wirklichkeit, die durch Bilder erzählt und auf die Leinwände rund um die Welt gebracht wurde von den „Straßengedichten“ wahrer Maestri!

Wo siehst du Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Filmkulturen?

Der Unterschied liegt in der Kunst und der Traditionskultur, die Italien in den vergangenen Jahrhunderten gesammelt hat.

Das italienische Kino hatte stets eine starke Faszination für amerikanische Filme. Woher stammt diese Faszination?

Die amerikanischen Filme haben nicht nur das italienische Kino beeinflußt, sondern auch das vieler anderer Länder. Das hat es mit einem Prunk gemacht, der durch Budgets von vielen Millionen Dollar geschaffen wurde. Kein anderes Land könnte einen solchen Aufwand betreiben.

Während der Zeit des Faschismus hat die italienische Filmindustrie große Filme produziert, die aber von Diktaturen bestimmt wurden; die amerikanischen Filme steckten dagegen voller Unabhängigkeit und Freiheit, was uns sehr gefallen hat. Bis dann MacArthur kam …

Viele Leute in der italienischen Filmindustrie verwenden Pseudonyme, oft englische Namen. Wie ist das entstanden?
Die amerikanischen Pseudonyme kamen mit den ersten Western. Warum? Damit die Leute glaubten, daß die Filme in „Amerika“ von „Amerikanern“ gemacht wurden.

Du hast dagegen offenbar selten einen anderen Namen als Enzo Girolami oder Enzo G. Castellari verwendet – gibt es dafür einen bestimmten Grund, wenn man ja bedenkt, daß Leute wie Aristide Massaccesi über 30 verschiedene Namen benutzt haben?

Ich habe auch mein eigenes amerikanisches Pseudonym. Für meinen ersten Western, 7 WINCHESTER PER UN MASSACRO (1967, dt. DIE SATANSBRUT DES COLONEL BLAKE oder auch SEINE WINCHESTER PFEIFT DAS LIED VOM TOD), habe ich den Namen „E.G. Rowland“ verwendet. Den habe ich gewählt, weil ich wollte, daß er wie mein Nachname klingt, Girolami.

Noch ein Name, den ich verwendet habe: Stephen M. Andrews (die Namen meiner Tochter Stefanie, M. für meine Frau Mirella und Andrews für meinen Sohn Andrea).

Massaccesi war ein gewaltiger Arbeiter in Sachen Film! Er hat viele viele Filme gemacht und wußte, daß er Billigprodukte drehte, aber er hat ehrlich gelebt. Er hat immer seinen Namen geändert, als wären sie ihm peinlich.

Ich erinnere mich, ein Interview mit einem italienischen Regisseur gelesen zu haben (leider kann ich mich nicht erinnern, welcher), der gesagt hat: „In Italien fragen dich die Produzenten nicht, wie dein Film aussieht, sondern sie fragen dich, nach welchem FILM dein Film aussieht“. Kannst du das kommentieren und von eigenen Erfahrungen damit berichten?

So ist es in jedem Land: Es gibt einen Blockbuster – wozu verstehen, was die Zuseher wertschätzen? Ein „bestimmter“ Film war ein großer Erfolg? Dann laßt uns Kopien davon produzieren!

Universal Studios sind damals gerichtlich gegen deinen Film L’ULTIMO SQUALO (1981, dt. THE LAST JAWS – DER WEISSE KILLER) vorgegangen, kurz nachdem er in Amerika veröffentlicht wurde, und der Film wurde aus den US-Kinos genommen, weil man dachte, daß er zu sehr bei JAWS (dt. DER WEISSE HAI) abkupferte. Kannst du uns mehr erzählen, was da passiert ist?

Mit L’ULTIMO SQUALO war die Grundsituation anders. Keiner der kleinen Filme, die als Imitate der großen produziert wurden, wurden auf dem US-Kinomarkt veröffentlicht. Die gingen direkt in den TV-Markt über. Aber mein Film wurde auf dem US-Markt veröffentlicht; am ersten Wochenende hat er alleine im Gebiet von Los Angeles $2,200,000 eingespielt!! Ein unglaublicher Erfolg! Niemand erwartete solch einen großen Erfolg von einem kleinen italienischen Film. Der Film war gut gemacht. Das Budget meines Films war ungefähr das des ersten Prototyps von Spielbergs Hai (der nie benutzt wurde!). Universal sachen die Veröffentlichung ihres geplanten Projekts JAWS 3 (dt. DER WEISSE HAI 3) gefährdet und trommelten also ihre besten Anwälte zusammen …

Aber in JAWS 3 haben sie dann viele der Szenen aus meinem Film kopiert!

Wie bist du zu L’ULTIMO SQUALO gekommen?

Ich hatte Regie geführt bei CACCIATORE DI SQUALI (1979, dt. DSCHUNGEL DJANGO), der ein großer internationaler Erfolg war. Dank die Erfahrung im Dreh der vielen Actionszenen mit den Haien haben mir die italienischen Produzenten angeboten, bei L’ULTIMO SQUALO Regie zu führen.

Es ist ziemlich unglaublich, daß man es geschafft hat, deinen Film aus den US-Kinos zu verbannen, während in Amerika ja zahllose Filme produziert werden, die von Blockbustern inspiriert wurden. Was würdest du sagen, sind die Ähnlichkeiten zwischen L’ULTIMO SQUALO und JAWS und, viel wichtiger, was sind die Unterschiede?

Die amerikanischen Anwälte haben viele Ähnlichkeiten zwischen JAWS und L’ULTIMO SQUALO entdeckt. Derselbe Hai. Die Frau des Stars war blond. Der Hai greift Boote an … und so weiter … offensichtliche Dinge wie die Arbeit mit einem Hai auf offenem Meer, und dann noch die folgenden Abenteuer, die mit „etwas“ zu tun haben, das auf dem Wasser treibt …

In einem Interview mit Splatting Image hast du Sam Peckinpah als einen deiner Haupteinflüsse genannt. Hast du noch andere Einflüsse?

Peckinpah ist einer meiner Lieblingsregisseure. Ich muß aber auch Ford nennen, Welles, Kubrick, Yates, Walsh, Kazan, Fury …

Mit welchen Filmen bist du aufgewachsen?

Mit den amerikansichen Western und den amerikanischen Polizeifilmen.
Findest du, daß es einen Dialog zwischen der amerikanischen und der italienischen Filmindustrie gibt? Mit anderen Worten, beeinflussen die italienischen Filme auch die amerikanischen?

Der Einfluss der italienischen Filmindustrie auf die amerikanische fand in unserer Western-Zeit statt. Sobald ein italienischer Western veröffentlicht wurde, kopierten die Amerikaner irgendwas. Aber der WAHRE Einfluß wurde von Fellini, De Sica und Visconti gegeben!

Historische Tatsache: 1913 wurde ein italienischer Film, CABIRIA, mit unglaublichem Erfolg auf dem US-Markt veröffentlicht, das war ein internationales Event. Der Film wurde über ein Jahr lang in US-Kinos gezeigt. Seitdem hat die Filmindustrie der Welt italienische Epen kopiert.

Der italienischen Filmindustrie geht es momentan sehr schlecht. Hast du eine Ahnung, warum?

Die Welt des Films hat sich geändert. Es gibt keine einzelnen unabhängigen Produzenten. Um einen Film zu verwirklichen, muß man sich finanzielle Unterstützung der großen TV-Sender holen. Es ist absurd! Man kriegt mit dem Namen des Regisseurs und des Hauptdarstellers Interesse eines Verleihers und ausländischer Co-Produzenten. Es hat kein „Wechsel“ stattgefunden. Die tatsächlichen Autoren erscheinen ohne jede Erfahrung am Set und geben vor, alles zu wissen.

Vielen Dank an Enzo für das Interview!

Das oberste Photo stammt von Castellaris offizieller Website: www.enzogcastellari.com.

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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