Uncategorized

THE HUMAN CENTIPEDE II: Careful what you wish for

In meinem Text zum ersten Teil der Horrorreihe THE HUMAN CENTIPEDE habe ich unter anderem darüber sinniert, wie mich der Tabubruch um des Tabubruchs willen nicht mehr interessiert – früher habe ich noch gezielt nach filmischen Grenzerfahrungen gesucht, heute geben mir die entsprechenden Übungen im Nihilismus eigentlich nur noch innere Leere. Und doch muß ich immer wieder feststellen, daß mich das Verbotene reizt (das merke ich schon daran, wie ich auf reißerische Titel und plakative Konzepte anspringe), und daß ich mich gerne vor allem jenem Terror wieder stelle, der mich früher besonders verstört oder abgestoßen hat – weil es besonders interessant ist, wie sehr sich der eigene Blick auf Film und Welt verändert hat. Rückblickend betrachtet ist es kurios, wie ich immer wieder ins Extrem blicken wollte und dann davon abgeschreckt war, wenn die Filme zu extrem waren. Heute kann ich diesen Zugang besser differenzieren: Nicht das Extrem schreckt mich ab, sondern die Aussicht, hinter diesem Extrem nichts zu finden.

Nun war THE HUMAN CENTIPEDE aber eigentlich – wie so viele berüchtigte Werke, z.B. Joe D’Amatos verschrieener MAN-EATER (DER MENSCHENFRESSER) – primär ein Paradebeispiel in effektvollem Werbegeklapper: Der Film erhielt seinen Ruf als perverser Celluloidabgrund hauptsächlich wegen seiner Grundidee, dem Aneinandernähen von Opfern zu einem „menschlichen Tausendfüßler“, wobei der Mund der hinteren Personen am, nunja, Ende des Verdauungstraktes des Vordermanns hing. Tatsächlich war THE HUMAN CENTIPEDE nicht wahnsinnig explizit: Er war kaum blutig, und auch wenn das Leid der Opfer lang ausgekostet wurde, spielte sich alles Widerwärtige im Kopf ab und nicht auf der Leinwand. Wenn die Story selber nicht von zahlreichen Gruselklischées und hirnrissig handelnden Figuren durchzogen gewesen wäre, hätte man den Film tatsächlich als perfide schwarze Groteske feiern können.

Martin (Laurence R. Harvey) hat Freude an seinem
menschlichen Tausendfüßer.

Der Erfolg des Erstlings verlangte nun freilich, daß die Schauermär um den menschlichen Tausendfüßler weitergeht – und Autor und Regisseur Tom Six nutzt die Gelegenheit, um sein Publikum weit in den Abgrund hineinzuziehen, den der Vorgängerfilm eigentlich nur andeutete. THE HUMAN CENTIPEDE II (der den Untertitel „Full sequence“ trägt, während der erste Film noch den Zusatz „First sequence“ hatte) watet derart ausgiebig in sadistischen Grausamkeiten, daß der Film wie eine bizarre Adaption des Prinzips „Careful what you wish for“ wirkt: Wer nach dem ersten Teil mehr wollte, wird hier womöglich feststellen, daß mehr zuviel ist.

Six geht mit der Fortsetzung erzählerisch einen recht ungewöhnlichen Weg: In der Welt von THE HUMAN CENTIPEDE II ist der erste Teil tatsächlich nur ein Film, der hier einen kranken und geistig behinderten Fan namens Martin dazu anregt, selber einen solchen menschlichen Tausendfüßler mit 12 Personen zu bauen. Martin arbeitet in einem Parkhaus, wo er sich seine Opfer zusammensucht; als Kopf seiner Kette entführt er eine der Schauspielerinnen aus dem Originalfilm, Ashlynn Yennie, die sich hier gewissermaßen selber spielt.

Im ersten Film war sie noch weiter hinten in der Kette:
Ashlynn Yennie kommt voran im Filmbusiness.

Weil wir abgesehen vom immer stumm bleibenden Martin keine Identifikationsfiguren in der Geschichte haben – selbst die Schauspielerin wird hier als beinahe so anonymes Opfer wie die anderen behandelt – wird THE HUMAN CENTIPEDE II quasi wie ein Psychogramm erzählt, das uns an einen Menschen bindet, mit dem wir eigentlich gar keine Zeit verbringen wollen. Es ist bezeichnend, wie krank und grotesk Martins Welt selbst ohne das Tausendfüßler-Konzept gezeichnet ist: Er wurde offenbar als Kind vom Vater sexuell mißhandelt; die Mutter wirft ihm vor, daß ihr Mann seinetwegen im Gefängnis sitzt. Ein Psychiater mit gigantischem Rauschebart interpretiert Martins Interesse für Tausendfüßler flugs als Phallus-Symbol und tätschelt dem zurückgebliebenen Mann bei der Erwähnung der sexuellen Übergriffe des Vaters liebevoll das Bein. Normale menschliche Interaktion findet hier nicht statt: Die Mutter versucht eines Nachts, ihren Sohn mit dem Messer umzubringen; der Nachbar ist ein brutaler Skinhead, der Martin gegenüber handgreiflich wird, und ein fetter Mann im Parkhaus, der sich mit dem Psychiater eine Prostituierte teilt, meint schmierig grinsend, daß er einen Ort in Thailand kennt, wo man Sex mit geistig behinderten Kindern haben kann.

Wenn Martin sich dann daran macht, seine zwölf Opfer – darunter auch eine schwangere Frau – aneinanderzureihen, mutet das zunächst wie ein schwarzhumoriger Horrorwitz an: Er bewaffnet sich mit Zange, Hammer, Säge, Küchenmessern, Tacker und anderen Utensilien aus dem häuslichen Werkzeugkoffer und macht sich vergnügt an die Arbeit. Tom Six ist aber nicht zum Scherzen zumute – oder sein Scherz geht, wie oben angedeutet, auf Kosten des Zusehers, der das unbedingt sehen will: Wo der erste Film die tatsächliche Operation noch visuell beinahe ganz aussparte, wird Teil 2 zur Splattersause für Menschen mit starken Mägen. Da werden Knie aufgeschnitten, um die Kniescheibenbänder zu zertrennen, Zähne werden mit dem Hammer herausgeschlagen, eine Zunge wird mit der Zange herausoperiert. Daß Martin die hinterste Frau seiner Kette dann vergewaltigt, nachdem er sich Stacheldraht um sein bestes Stück gerollt hat, wird dankenswerterweise ohne Nahaufnahmen gezeigt.

„Keine Bange, die Selbstbeteiligung liegt bei maximal 10 Euro am Tag.“

Man kann sich nun überlegen, ob Tom Six mit THE HUMAN CENTIPEDE II eine Art Meta-Kommentar zum Extremhorror-Genre abgeben will (beziehungsweise zu dem, was der Zuseher dort sehen will), oder ob er einfach nur wüst provoziert, als gälte es, einen Pokal für den geschmacklosesten Film aller Zeiten zu gewinnen. Geht es um einen etwaigen Zusammenhang zwischen fiktivem Horror und echten Grausamkeiten? Der triste Schwarz-Weiß-Look suggeriert eigentlich mehr Künstlichkeit als der Farblook des Vorgängers, aber vielleicht wurde die Optik auch nur gewählt, um die Brutalität leichter an etwaigen Zensoren vorbeischmuggeln zu können (eine Technik, die ja zum Beispiel Quentin Tarantino auch in KILL BILL aufgreift). Es beschleicht einen manchmal das Gefühl, Six möchte wie Michael Haneke in FUNNY GAMES den Zusammenhang zwischen Gewalt und Unterhaltung hinterfragen – vor allem im Hinblick auf unsere Erwartungen an bestimmte Filme – aber abgesehen von der Grundprämisse, daß der erste HUMAN CENTIPEDE hier eine Fiktion ist, die einen Menschen zum Nachahmen einlädt, fehlt dem Prozedere jegliche Reflektionsebene. Das Ziel dürfte tatsächlich sein, den Zuseher möglichst weit über seine Grenzen zu stoßen.

Man muß dem Film zugestehen, daß er dieses Ziel sehr effektiv erreicht – THE HUMAN CENTIPEDE II ist technisch gut gemacht, der Ambient-Score verbreitet ein bedrückendes Gefühl der Trostlosigkeit, und der mutige Laurence R. Harvey ist sagenhaft abstoßend in seiner Rolle als Martin. Wobei wie schon beim Vorgänger immer ein wenig die Dummheit dafür Sorge tragen muß, daß das Horrorkonzept überhaupt aufgeht – zum Beispiel, wenn die Schauspielerin Yennie mit der Aussicht auf ein Vorsprechen bei Tarantino nach London gelockt wird, oder wenn mehrere Gefangene, die an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt sind, es nicht einmal versuchen, zur nächsten Person herüberzurobben, um sich gegenseitig von den Fesseln zu befreien.

„Ich suche HUMAN-CENTIPEDE-Fans für nette Stunden zu zwölft …“

Freilich suggeriert diese Anmerkung, daß die Qualität des Films (oder der Mangel daran) irgendetwas damit zu tun hat, wie plausibel das Geschehen aufgezogen ist – dabei ist dieser Aspekt eigentlich völlig irrelevant für das, was der Film ist. THE HUMAN CENTIPEDE II ist eine heftige Provokation, bei der jegliche Kritik an der Machart eigentlich durch sein Ziel der Grenzüberschreitung von vornherein abgeschmettert wird. Der Film ist zu heftig? Genau das ist ja der Punkt! Der Film ist unrealistisch? Vielleicht ist genau das ja der Punkt! Der Film hat keine Handlung? Ganz genau!

Letztlich ist es wohl exakt diese Eigenschaft, die Six‘ Provokation letzten Endes irgendwie berechenbar und damit banal werden läßt: Es steckt keine debattierbare Position dahinter. Man ahnt irgendwie, daß sich das mit dem von Six angekündigten dritten Teil auch nicht ändern wird: Der verspricht nämlich hauptsächlich, noch ärger zu werden und eine Kette von 500 Menschen zu präsentieren. Sprich: Es gibt mehr für alle, denen das „mehr“ des zweiten Films noch nicht genug war – oder die es diesmal noch nicht gelernt haben: Careful what you wish for.

The Human Centipede II (full sequence) (Niederlande/England/USA 2011)
Regie: Tom Six
Buch: Tom Six
Kamera: David Meadows
Musik: James Edward Barker
Darsteller: Laurence R. Harvey, Ashlynn Yennie, Vivien Bridson, Bill Hutchens

Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    Comments are closed.

    0 %