FilmSinn: Vom Ende des Bonusmaterials

Uncategorized / 5. März 2016

In der Rubrik „FilmSinn“ schreibe ich Überlegungen zu verschiedenen Themen aus der Filmwelt nieder, die mich beschäftigen.

34 Minuten. Das ist das komplette Ausmaß der Extras auf der eben erschienenen BluRay von SPECTRE – und ein endgültiges Zeichen, daß das Zeitalter des Bonusmaterials Geschichte ist. Vor allem, wenn fünf Minuten davon durch drei Trailer in Anspruch genommen wird und neun weitere für sechs Mini-Featurettes verwendet werden, die dazu dienen, den Film zu bewerben. Nicht einmal das Video zum Bond-Song ist auf der Disc!

Es ist schon seit einiger Zeit üblich, das Bonusmaterial auf das Nötigste zu reduzieren. Ganz egal, wie aufwendig der Film produziert wurde oder wie erfolgreich er im Kino lief – in den meisten Fällen gibt es außer ein paar oberflächlichen Making-of-Clips mit Werbecharakter nichts mehr zu sehen. Es gäbe beispielsweise mit Sicherheit viel zur Entstehung des Bergsteigerdramas EVEREST zu erzählen – aber die vier kurzen Clips auf der BluRay beschränken sich auf ein paar dahingeworfene Presse-Statements. Man darf froh sein, daß bei EVEREST noch ein Audiokommentar des Regisseurs Platz hatte – SPECTRE findet den nicht, obwohl Sam Mendes ja, wie man vor ein paar Jahren noch bei SKYFALL hören konnte, viel Interessantes zu sagen hat.

So sah das früher aus mit den Bonus-Features.
(Im gezeigten Fall: Die US-DVD zu DON’T SAY A WORD)

Vor einigen Jahren war das noch anders. Mit den Laserdiscs fing es an, daß Filmemacher Kommentare zu ihren Werken einsprachen. Mit dem Aufkommen der DVDs gab es dann eine Flut an Zusatzmaterial – die Möglichkeiten des neuen Mediums wollten genutzt werden, weshalb mitunter selbst kleine Schnoddertitel mit mehreren Audiokommentaren, entfernten Szenen, Interviews, Making-of-Clips und teilweise spielfilmlangen Dokumentationen bedacht wurden. Man kann freilich darüber streiten, ob ein Film wie AMERICAN PSYCHO 2 gleich zwei Audiokommentare plus Outtakes und entfernte Szenen gebraucht hätte.

Es entstand da eine neue Industrie, was die Produktion von Extras angeht, und manche Produzenten konnten sich einen Namen mit der Herstellung besonderer Bonus-Features machen. Natürlich: Im Laufe der Zeit hat sich da mehr Zusatzmaterial angesammelt, als man je schauen könnte, und so manche Doku und mancher Kommentar waren völlig verzichtbar. Aber es war da für diejenigen, die es interessiert hat, die tiefer in einen Film eintauchen und mehr über die Macher und Hintergründe erfahren wollten.

Aus dem Making-of zu Alfred Hitchcocks FAMILIENGRAB: Einblicke in die Arbeit des Meisters.

Bonusmaterial ist eine großartige Möglichkeit, mehr über das Filmemachen zu lernen. Die gesammelten Dokumentationen der Alfred-Hitchcock-Box mit 14 Filmen, teilweise einstündig oder länger, sind so vollgepackt mit Wissen über Filmgeschichte, Drehbucharbeit, Inszenierung und generelle Filmgestaltung, dass sie fast als Vorlesungsreihe durchgehen. Ein Filmemacher wie Peter Bogdanovich verrät auf seinen Audiokommentaren immer wieder handwerkliche Tricks und Inszenierungsstrategien. Nicht umsonst meinte BOOGIE-NIGHTS-Regisseur Paul Thomas Anderson 1997 in einem Porträt der Los Angeles Times flapsig: „You can learn more from John Sturges‘ audio track on the BAD DAY AT BLACK ROCK laserdisc than you can in 20 years of film school.“

Auch unabhängig vom Lerneffekt können die Extras der Filme neue Sichtweisen eröffnen. Man bemerkt Nuancen, die man vielleicht übersehen hat, entwickelt eine Wertschätzung für gewisse Details der Filme, hört von den Ideen und Sichtweisen der Macher und ihren Gründen für bestimmte Entscheidungen. Ich finde es immer spannend, Menschen detailliert über ihr Handwerk reden zu hören: Man gewinnt Perspektive für Aspekte, über die man sich vielleicht noch nie Gedanken gemacht hat, und wird angeregt, genauer hinzusehen.

Und ja, manchmal sind die Extras der Filme einfach nur unterhaltsam. Da sieht man Komiker in den Outtakes improvisieren, daß sich die Kollegen kaum mehr halten können, da erzählen Beteiligte haarsträubende Anekdoten von der Produktion, und Schauspieler treffen nach vielen Jahren wieder aufeinander und unterhalten sich, als wären sie auf einem Klassentreffen.

Natürlich braucht nicht jeder Film alle Arten von Extras, und nicht jeder Kreative ist gleichermaßen offen oder sogar geeignet dafür. Woody Allens Filme sind bestenfalls mit ein paar Interviews der Schauspieler bestückt, meistens aber ganz blank – was in Ordnung geht, weil der Meister solche Einblicke ablehnt. Steven Spielberg spricht keine Audiokommentare ein – was auch in Ordnung geht, weil die Dokumentation auf seinen Filmen genug Informationen auf komprimiertem Raum hergeben. Wer einmal einen Audiokommentar von Rob Reiner gehört hat, weiß, daß man nicht jeden Macher zu diesem Format zwingen muß – der gute Mann schweigt nämlich den Großteil des Films über, wenn niemand bei ihm sitzt (plaudert in den Dokumentation aber ganz vergnügt über seine Filme). Aber im Rahmen dessen, was Sinn macht und was die Macher erzählen wollen: Bitte, auf jeden Fall. Schön, wenn es verfügbar ist.

So sieht das heute aus: Selbst ein Multi-Millionen-Titel wie SPECTRE kriegt nur ein paar Bonus-Brocken.

Warum also verschwindet diese Vielfalt an Einblicken seit einigen Jahren wieder? Ganz einfach: Die Absatzzahlen für DVDs und BluRays sind gesunken, die Anbieter setzen immer mehr auf Streaming-Anbieter und Video on Demand – Plattformen, bei denen Bonusmaterial nicht vorgesehen ist. Immer weniger Firmen wollen also aufwendiges Material produzieren, wenn sie immer weniger davon absetzen können.

Freilich muß man es auch ganz nüchtern betrachten: Nicht jeden interessieren Extras. Viele wollen einfach den Film sehen und haben kein Bedürfnis, den Regisseur dazu reden zu hören. Das Bonusmaterial ist ein Angebot an eine wahrscheinlich überschaubare Gruppe an Filmliebhabern – und selbst die steigen ja nach und nach auf die günstigen und praktischen Streaming-Portale um. „Sammelst du Filme oder Bonusmaterial?“, wurde ich einmal gefragt. Die Antwort für die meisten liegt bei den Filmen. Meine Antwort ist, daß es kein „oder“ sein muß.

Es gibt immer noch Ausreißer: Die Ankündigung zur Heimkino-Edition von STAR WARS: THE FORCE AWAKENS verspricht eine Dokumentation in Spielfilmlänge und zig andere Extras, darunter ein Segment, in dem John Williams über seine Musik spricht. Auch Klassiker kriegen gerne ein umfangreiches Paket an Material mitgeliefert (das allerdings oft auch zu großen Teilen aus Material besteht, das noch zur Blütezeit der Extras angefertigt wurde). Aber wenn eine Großproduktion wie SPECTRE mit ein paar hingeklatschten Pseudo-Extras daherkommt, weiß man, daß die goldenen Jahre für Filmliebhaber zumindest in dieser Hinsicht vorbei sind. Ein Blick quer durch die Neuerscheinungen der letzten Monate bestätigt die Entwicklung.

Special Edition, Collector’s Edition, Platinum Edition … verschwinden die Bonus-Editionen oder werden sie teuer?

Ich könnte mir vorstellen, daß es noch einen Markt für aufwendigere Liebhaber-Editionen gibt – so wie einige Filmfreunde viel Geld für schicke Verpackungen und Boxen ausgeben, wäre es denkbar, daß es Luxus-Editionen mit Bonusmaterial für die Interessierten gibt und Ohne-alles-Editionen für alle anderen. Solch eine Unterteilung gab es einige Zeit auch – und vielleicht würde sie nach wie vor Sinn machen. Vermutlich lägen solche Editionen, vor allem die für die Nischentitel, mittlerweile aber im preislichen Bereich der mittlerweile so beliebten Mediabooks.

Ebenso wäre denkbar, daß Netflix, Amazon und andere Streaming-Anbieter zusätzliche Sektionen für Extras anlegen, die man bei Bedarf schauen kann – vielleicht auch gegen einen kleinen Aufpreis. In beiden Varianten gilt: Ich bin bereit, mehr zu zahlen, wenn ich dafür die entsprechenden Inhalte kriege, die mich interessieren.

Aber wie signalisieren wir den Firmen, daß wir wieder mehr Bonusmaterial haben wollen – oder überhaupt welches? Oder ist es einfach nur ein Luxusproblem, wenn etwas wieder verschwindet, das es lange Jahre der Kinogeschichte gar nicht gegeben hat?

Vielen Dank an Dia Westerteicher von Evil Ed für das Logo zur Rubrik „FilmSinn“.






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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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