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[Film] Big Snuff (1976)

Das ist kunstvolles Klappern: Ohne das brillant unverschämte Marktgeschrei von Produzent Allan Shackleton würde dieser billigst produzierte Streifen heute nicht einmal mehr mich hinter dem Ofen hervorlocken. Stattdessen wurde SNUFF (nur in Deutschland wurde daraus ein BIG SNUFF, von Verleiher Alois Brummer als „vom FBI verboten und in allen Staaten der USA gejagt“ angepriesen) zu einem legendären Grindhouse-Schocker, der Verbote, Gerichtsverhandlungen und Demonstrationen nach sich zog – und damit natürlich zu einer langlebigen Gelddruckmaschine wurde.

Ursprünglich war SNUFF (der auch unter dem völlig sinnfreien Alternativtitel AMERICAN CANNIBALE erschien) ein 1971 in Argentinien gedrehter Exploitation-Streifen: Die Eheleute Michael und Roberta Findlay filmten dort für ein überschaubares Budget von $30.000 einen Reißer namens SLAUGHTER, in dem ein Manson-hafter Sektenführer seine ihm hörigen mordlüsternen Mädels zu diversen Gewalttaten anstachelt. Der US-Verleiher Shackleton ließ den nur in Südamerika veröffentlichten und flugs wieder vergessenen Streifen jedoch einige Jahre im Giftschrank – das Produkt erschien ihm nicht nur wegen der horrenden englischen Synchronisation zu mangelhaft, um es gewinnbringend herausbringen zu können. Dann aber las er 1975 einen Zeitungsartikel über angebliche südamerikanische Snuff-Filme – sprich: Filme, in denen reale Morde gezeigt werden – und machte sich daran, SLAUGHTER entsprechend aufzupeppen: Das ursprüngliche Ende wurde gegen ein neu gedrehtes ausgetauscht, in der eine Filmcrew eine Frau vor laufender Kamera umbringt; unter neuem Titel und entsprechender Werbekampagne suggerierte der Film also nun, daß es dort eine echte Tötung zu sehen gäbe (die behauptete Authentizität des Materials wurde auch damit unterstrichen, daß der Film keinerlei Credits hat). „The film that could only be made in South America … where life is cheap!“, trommelte das Plakat. Angeblich organisierte Shackleton der Sicherheit halber auch noch einige Proteste gegen seinen eigenen Film – die prompt durch richtige abgelöst wurden und die morbide Neugier des Publikums gehörig anstachelten.

So kann man SNUFF also als zwei separate Teile betrachten, die rein gar nichts miteinander zu tun haben – und ohne das (von einem anderen Regisseur, angeblich Simon Nuchtern, gedrehte) neue Ende bliebe der Film wohl ein Bahnhofskino-Quickie, wie es derer hunderte gab. Die Story um die mörderische Sekte und ihre verschiedenen Opfer ist schnörkellos heruntergekurbelt und zeugt an allen Ecken und Enden vom nicht vorhandenen Budget. Die englische Synchro ist in der Tat von holprigster Qualität – nicht nur, weil der Sektenführer aus einem nicht ganz ersichtlichen Grund immer mit fünfmal soviel Hall spricht wie alle anderen Figuren – und immer wieder gerät die Mixtur aus blanken Messern und ebensolchen Brüsten in inszenatorische Schwierigkeiten: Da ist nicht immer klar, wer gerade wen ansieht oder wer wo steht; die Geschichte stolpert dezent unmotiviert vor sich hin, und es erscheint auch nicht immer schlüssig, warum der Mann auf dem Bildschirm gerade umgebracht wird. Ach ja, und die Schauspieler – naja, sagen wir mal: Es sind nicht die besten, die man für kein Geld kriegen kann. Abgerundet wird der Spaß mit einer endlos langen Karnevalssequenz, die wohl der Streckung auf Spielfilmlänge dienen soll (was zugegebenermaßen bei EASY RIDER ja auch schon funktioniert hat – ein Film, der hier übrigens gleich zu Beginn inklusive Pseudo-Steppenwolf-Song „zitiert“ wird).

Der billige C-Film-Charme stellt aber natürlich keine Überraschung dar; immerhin funktioniert die Angelegenheit als billiges Groschenheft mit ansehnlichen Darstellerinnen. Viel interessanter ist die Tatsache, daß SLAUGHTER sehr unverhohlen auf Massenmörder Charles Manson und seine „Family“ anspielt: Der Sektenführer, der hier „Satán“ (!) heißt, hat auf einem abgelegenen Hof (ähnlich Mansons Spahn Ranch) auch hier eine Reihe von verblendeten Quasi-Hippies und drogenkonsumierenden Gegenkulturellen um sich versammelt, von denen er absoluten Gehorsam einfordert und die er mit Ideologien anfüttert: In einer Szene konfrontiert Satán beispielsweise einen deutschen Waffenfabrikanten, der durch Verkäufe von Maschinengewehren im mittleren Osten reich geworden ist. Hinzu kommt, daß das letzte Opfer der Sektenanhängerinnen eine schwangere Schauspielerin ist – ganz ähnlich der echten Sharon Tate, die 1969 von Mansons Kult umgebracht wurde. Nun mag man dem Film – nicht ganz zu unrecht – eine gewisse Geschmacklosigkeit unterstellen, mit nur zwei Jahren Abstand diese schrecklichen Ereignisse für einen billigen Sex-und-Gewalt-Reißer aufzugreifen – aber gleichzeitig zeigt es, wie selbst schnell produzierte Filmprodukte Zeitgeist und Zeitgeschehen einfangen können. Immerhin sind die B-Movies meist die ersten Produktionen, die sich – freilich größtenteils höchst plakativ – mit tatsächlichen Problematiken auseinandersetzen und damit den Weg für größere, „seriösere“ Filme ebnen.

Werfen wir noch einen Blick auf den Teil, der SLAUGHTER zu SNUFF werden ließ: Die nur fünf Minuten lange Endsequenz, in der das angebliche SLAUGHTER-Filmteam nach Drehschluß noch den Mord an einem weiblichen Crewmitglied dreht. Das hat freilich keinerlei narrative Zusammenhänge mit den vorangegangenen 74 Minuten Film, obwohl es eine gewisse Parallele zwischen der Sinnlosigkeit der Sektenmorde und der völlig unmotivierten Tötung der Assistentin gibt. Die drastische Sequenz hat durch ihren Sadismus und ihre sehr expliziten Effekte natürlich eine gewisse Wirkung – warum aber Zuseher die Bluttat für echt gehalten haben könnten, läßt sich selbst mit historischem Rückblick schwer nachvollziehen: Das fängt schon bei vielen offensichtlichen Schnitten zwischen verschiedenen Kameraperspektiven an und hört bei der Tatsache, daß ein eben noch abgeschnittener Finger drei Einstellungen weiter plötzlich wieder vorhanden ist, noch lange nicht auf. Freilich lassen sich Effekte heute leichter erkennen als damals, weil wir geschulter im Blick sind und heute noch viel überzeugender tricksen können – dennoch erscheint der Gedanke nicht abwegig, daß die Gerüchte über die angebliche Echtheit hauptsächlich von Menschen weitergetragen wurden, die den Film nie gesehen haben. Ein eingeschalteter Staatsanwalt jedenfalls gab nach Sichtung des Films zu Protokoll, daß die Mordszene eindeutig gestellt sei, was für jeden offensichtlich erkennbar sei, der sich die Sequenz anschaut.

Fast ungewollt wird SNUFF mit dieser Szene und der dadurch angestachelten Sensation zu einer Reflexion über die Mechanismen des (Exploitation-)Kinos und unserer Rolle darin: Es ist nicht die Aussicht auf die Darstellung einer tatsächlichen Tötung, die uns hier anlocken soll, sondern die Möglichkeit einer solchen Abscheulichkeit, die theoretische Existenz solchen Filmmaterials – enttäuscht ist man hier ja nicht über die Tatsache, daß die Sequenz nun doch gestellt ist, sondern höchstens über die Qualität dieser Nachstellung (bzw. dem Mangel daran). Eine suggestive Werbekampagne wie die zu SNUFF (die ja nie behauptet, daß hier etwas echt sei, sondern nur die Gedanken in diese Richtung lenkt) funktioniert ja auch nur, weil sich so viele Menschen vom Nimbus des Verbotenen angezogen fühlen – vor allem in einem doch so sicheren Rahmen wie dem Kino, wo wir uns der Gefahr aussetzen und dennoch hinterher sicher nach Hause gehen können.



Big Snuff (Argentinien/USA 1971/76)
Originaltitel: Snuff
Alternativtitel: American Cannibale
Regie: Michael Findlay, Simon Nuchtern
Buch: Michael Findlay
Kamera: Roberta Findlay
Musik: Rick Howard
Produktion: Jack Bravman, Allan Shackleton
Darsteller: Mirtha Massa, Enrique Larratelli, Margarita Amuchástegui, Clao Villanueva, Ana Carro, Liliana Fernández Blanco, Aldo Mayo

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, erschien 2011. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm und produziert Bonusmaterial für Film-Neuveröffentlichungen. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, u.a. für die Salzburger Nachrichten, Film & TV Kamera, Ray, Celluloid, GMX, Neon Zombie und den All-Music Guide. Er leitet die Film-Podcasts Lichtspielplatz, Talking Pictures und Pixelkino und hält Vorträge zu verschiedenen Filmthemen.

    4 Comments

    1. Wie kommst du immer auf solche Filme? Finde deine Reviews ja immer sehr spannend zu lesen, weil ich von den meisten Filmen einfach vorher NIE gehört habe. Und diese wirken ja eigentlich schon vom Cover her abschreckend. Wie du schon schreibst- wie Groschenheftchen 😀

    2. Ich wühle mich sehr gerne durch die obskureren Ecken der Popkultur, und da führt dann einfach jeder Fund gleich auch zu den nächsten fünf Verbindungen. Wobei mich solche Groschenheft-Aufmachungen auch immer anziehen – vermutlich, weil mich auch die Psychologie des Verbotenen, womit ja da gerne gespielt wird, interessiert. Und natürlich habe ich auch ganz gerne ein paar Sachen auf dem Dachboden, die sonst in Vergessenheit geraten würden 🙂

    3. Hi!
      Ich bin die Giu*.
      Ich wurde getaggt und möchte auch dich gerne dazu einladen.
      Auf meinem Blog gibt es 11 Fragen, die an 10 Blogger meiner Wahl gerichtet sind.
      Ich freue mich, wenn du dabei bist!

      Grüße!
      Die Giu*

    4. Liebe Giu*, danke für den Tag. Ich habe allerdings nicht das Gefühl, daß die Fragen besonders viel mit mir oder meinem Blog zu tun haben. Daher möchte ich mich der Teilnahme enthalten.

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