[Film] The Human Centipede – Der menschliche Tausendfüßler (2009)

Uncategorized / 7. April 2013

Will ich das wirklich sehen? Das ist wohl die zentrale Frage, der man sich angesichts dieses schon jetzt berüchtigten Terrorfilmchens stellen muß. In THE HUMAN CENTIPEDE näht ein verrückter Wissenschaftler seine Opfer so zu einem menschlichen „Tausendfüßler“ aneinander, daß der Mund des einen jeweils am Verdauungstrakt der vorderen Person hängt. Also: Will ich diesen Film sehen, der allerseits als exzellent gemachter und damit umso abstoßenderer Ekeltrip gehandelt wird?

Auch wenn hier auf Wilsons Dachboden gerne mal schräges Kino begutachtet bzw. teils auch gefeiert wird und dabei auch diverse Geschmacklosigkeiten unter die Lupe genommen werden: Ehrlich gesagt liegen meine Filminteressen schon seit langem nicht mehr dort, wo noch um jeden Preis angeeckt wird und der aufregendste Part an einem Film sein Schockwert ist. Grenzüberschreitungen und Tabubrüche um ihrer selbst willen reizen mich schon seit Jahren nicht mehr – früher wollte ich die ganz harten Sachen unbedingt sehen, ob Charles Kaufmans Rape-and-Revenge-Reißer MUTTERTAG oder die pseudoreelle Clipshow GESICHTER DES TODES, aber irgendwann ließen mich diese cineastischen Extremerfahrungen nur noch leer zurück. Nein, ich habe nichts gegen Blut, Schock und intensiven Horror – aber wenn ein Film mir nichts zu bieten hat als Nihilismus und die durchschaubare Provokation, dann stimmt mich das nurmehr traurig.

Dr. Heiter (Dieter Laser) hat gerade erfahren,
daß er beim nächsten Ärztekongreß nicht eingeladen wird.

Will ich also THE HUMAN CENTIPEDE, der ganz offenkundig auf immensen Schockwert baut, tatsächlich sehen? Nun, sagen wir es mal so: Die Grundidee ist absurd genug, daß ich ein gewisses Interesse nicht abstreiten kann – und sobald sich so ein Widerhaken mal in der Aufmerksamkeit festgesetzt hat, bleibt er auch meistens dort stecken, bis man sich dem vermeintlichen Alptraum von Film einmal gestellt hat. Und wie es der Zufall so will, gibt ausgerechnet der örtliche Elektromarkt klare Entscheidungshilfe: Wenn das schicke BluRay-Mediabook, das üblicherweise 30 Euro kostet, dort schon einsam in der Wühlkiste für vier Euro herumliegt, hat die Neugier nicht mehr mit allzuviel Widerstand zu rechnen.

Jenseits der Kurzbeschreibung im ersten Absatz ist in THE HUMAN CENTIPEDE jedenfalls nicht mit Unmengen an Plot zu rechnen: Der wahnsinnige Chirurg Dr. Heiter entführt zwei junge amerikanische Touristinnen und einen Japaner, um aus ihnen im Kellerlabor seines abgelegenen Hauses besagten Tausendfüßler zu bauen. Dafür operiert er ihnen die Knie, damit sie die Beine nicht mehr ausstrecken können, und näht jeweils Köpfe und Hintern zusammen – dafür müssen den Frauen vorab noch die Zähne gezogen und die Lippen weggeschnitten werden. Danach versucht er sein Experiment wie ein Haustier zu trainieren (z.B., indem er seinen „Tausendfüßler“ die Zeitung holen läßt), während die drei Unglückseligen überlegen, wie sie aus ihrer – nunja – mißlichen Lage entkommen könnten.

Nicht die bevorzugte Position in so einer menschlischen Tausendfüßlerkette:
Die Aussichten von Lindsay (Ashley C. Williams) sind begrenzt.

THE HUMAN CENTIPEDE bestätigt einmal mehr, daß der Ruf eines Films nicht zwangsläufig etwas mit dem tatsächlich auf der Leinwand Gezeigten zu tun hat: „Er gilt als einer der schlimmsten und grausamsten Horrorfilme aller Zeiten“, heißt es im Booklet, und gerne wird verbreitet, wie sich Zuseher übergeben haben oder aus den Vorführungen geflüchtet sind, während schon beim Vorsprechen viele hoffnungsfrohe Kandidatinnen das Weite gesucht haben, als sie erfahren haben, was überhaupt im Drehbuch steht. In Wahrheit ist der Streifen rein visuell fast harmlos: Abgesehen von ein paar schmackigen Wunden und Schnitten gibt es beinahe nichts Aufrüttelndes zu sehen – ein operativer Schnitt ins Knie hier, eine blutige Messerwunde dort. Gegen handelsübliche Splatterorgien nimmt sich THE HUMAN CENTIPEDE so harmlos aus wie der erste TEXAS CHAINSAW MASSACRE. Freilich hält sich der Film aber bei den nicht explizit gezeigten Schaudrigkeiten keinesfalls zurück: Abgesehen davon, daß die sadistisch-fiese Idee dieser aneinandergenähten Opfer schon generell unter die Haut geht, klärt uns der Streifen auch – ohne irgendetwas zu zeigen – auf, wie das so funktioniert, wenn der Vordermann mit der Verdauung fertig ist und das, räusper, Resultat weitergereicht wird.

Man muß es Regisseur und Autor Tom Six lassen: Technisch ist THE HUMAN CENTIPEDE eine gekonnte Angelegenheit. Die Kamera schleicht durch das deprimierend kahle und penibelst ordentliche Haus von Dr. Heiter, der Score fährt beklemmende Ambient-Flächen auf, Terror und Ekel sitzen. Gewissermaßen brillant ist der Hauptdarsteller, ein Mann mit dem schönen Namen Dieter Laser, der den wahnsinnigen Wissenschaftler wie Dr. Mengele durch die Szenerie stapfen läßt. Mit seinem kantigen, wie Leder gegerbten Gesicht und der harten deutschen Aussprache ist Laser wie geschaffen für den Chirurgen, dem man eigentlich nicht mal auf offener Straße und im Tageslicht begegnen möchte.

„Was soll das heißen, ihr seid nicht krankenversichert?“

Problem des Films ist aber nun keinesfalls die abstruse Grundidee oder die – letzten Endes eh nur angedeutete, aber nie ausgeführte – Grenzüberschreitung. Nein, der Haken an der Sache ist viel simpler: THE HUMAN CENTIPEDE ist dumm. Beziehungsweise – seine Figuren sind allesamt dumm; ein ums andere Mal kann man nur mit den Augen rollen, warum der Angelegenheit nicht hier und jetzt ein flottes Ende bereitet wird. Das fängt schon mit dem klischéehaften Verirren der beiden Touristinnen im Wald an: Eine einsame, verlassene Straße, dann eine Reifenpanne, und natürlich kein Handynetz. Wäre es eine gute Idee, langsam mit plattem Reifen die Straße entlangzufahren, um zur nächsten Ortschaft oder Tankstelle zu kommen? Vielleicht nicht – aber allemal besser, als in High Heels nachts durch den Wald zu stolpern und dabei sogar die Straße zu verlassen, um im Unterholz die Suche nach Hilfe fortzusetzen.

So geht es denn weiter: Ein Fluchtversuch der Hauptdarstellerin – noch vor der Operation – kommt so konstruiert spät, daß man auch nur aufstöhnen kann. Nachdem sie sich in einem Zimmer verschanzt hat, sucht sie nicht etwa nach einer Waffe oder nach einem Telefon – nein, sie verkriecht sich hinter dem Bett und weint den hinter der verschlossenen Tür polternden Doktor an, sie doch bitte gehen zu lassen. Wenig später zieht sie ihre bewußtlose Freundin quer durchs Haus und nach draußen – wäre es vielleicht geschickter, so schnell wie möglich davonzulaufen und dann mit der Polizei wieder anzurücken? Aber nein, dann würde ja kein menschlicher Tausendfüßler zustandekommen. Auch die hinteren Sequenzen stecken voll solcher wenig durchdachten Handlungen, und das hemmt den Terror dann doch gewaltig – wenn es nicht bei zynischeren Zeitgenossen vielleicht sogar dafür sorgt, daß sie den guten Onkel Doktor anfeuern, die anderen Figuren endlich zu erledigen.

„Grüß Gott, Herr Doktor! Wir sind unzertrennliche Freundinnen und
möchten unser Verhältnis gerne intensivieren.“

Und so könnte THE HUMAN CENTIPEDE gleichzeitig weitaus schlimmer und weitaus besser sein. Wenn man das Folter-, Verstümmelungs- und Survivalhorrorkino der letzten Jahre schon ausführlich begutachtet hat, bietet dieser angebliche Extremfilm wenig, was man nicht schon sonstwo durchlitten hätte. Aber das gilt leider auch für die Qualität dieses Terrors – wobei man vielleicht dankbar sein darf, daß der Film auf demselben Niveau operiert wie jeder handelsübliche Slasherstreifen. Ich verliere jedenfalls wenig Schlaf, solange noch traditionsgemäß junge Leute in den Wald fahren und dort verhackstückt werden.

Tom Six warf nach dem Überraschungserfolg seines Schockers übrigens gleich eine Fortsetzung auf den Markt, die um einiges heftiger, perverser und grausamer ausfallen soll. Ich glaube, ihr wißt, welche Frage sich mir da stellt.

The Human Centipede – Der menschliche Tausendfüßler (England/Niederlande 2009)
Regie: Tom Six
Buch: Tom Six
Kamera: Goof de Koning
Musik: Patrick Savage, Holeg Spies
Darsteller: Dieter Laser, Ashley C. Williams, Ashlynn Yennie, Akihiro Kitamura

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Christian Genzel
Christian Genzel arbeitet als freier Autor und Filmschaffender. Sein erster Spielfilm DIE MUSE, ein Psychothriller mit Thomas Limpinsel und Henriette Müller, handelte von einem Schriftsteller, der eine junge Frau entführt, weil er sie als Inspiration für sein Buch braucht. Außerdem drehte Genzel mehrere Kurzfilme, darunter SCHLAFLOS, eine 40-minütige Liebeserklärung an die Musik mit Maximilian Simonischek und Stefan Murr, und den 2017 für den Shocking Short Award nominierten CINEMA DELL' OSCURITÀ. Derzeit arbeitet er an einer Dokumentation über den Filmemacher Howard Ziehm. Christian Genzel schreibt außerdem in den Bereichen Film, TV und Musik, unter anderem für Film & TV Kamera, Celluloid, GMX, den All-Music Guide, 35 Millimeter, Neon Zombie und Salzburger Nachrichten. Er hält Vorträge zu Filmthemen und kuratierte 2014 an der Universität Salzburg eine Filmreihe zum Thema "Erster Weltkrieg".





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